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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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verloren zu haben scheint) ergibt sich aus der demographischen Dynamik seines Rekrutierungsfeldes. Wie die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts stellt er essentiell eine Jugendbewegung, spezieller eine Jungmännerbewegung dar. Sein Elan resultiert zum größten Teil aus dem Vitalitätsüberschuß einer unaufhaltsam anschwellenden Riesenwelle von arbeitslosen und sozial hoffnungslosen männlichen Jugendlichen zwischen fünfzehn und dreißig Jahren – mehrheitlich zweite, dritte, vierte Söhne, die ihren aussichtslosen Zorn nur durch die Beteiligung an den nächstbesten Aggressionsprogrammen ausleben können. Indem die islamistischen Organisationen in ihren Basisländern Gegenwelten zu den bestehenden Ordnungen schaffen, kreieren sie Gitter von alternativen Positionen, in denen sich zornige junge Männer mit Ambitionen wichtig fühlen dürfen – dazu gehört der Drang zum Losschlagen gegen nahe und ferne Feinde, lieber heute als morgen.
    Diese zahlenmäßig enormen Gruppen bilden die natürliche Gefolgschaft von Agitatoren aus der älteren Generation, deren Predigtstoffe sich wie von selbst aus der Empörungsbereitschaft ihrer Klientel ergeben – wobei die islamische Tradition lediglich die semantischen Formen zur Vertextung von aktuellen Wut- und Gewaltspannungen bereitstellt. Einem Laborversuch ähnlich, konnte man diese Verhältnisse bei der Anzettelung der »spontanen Unruhen« wegen der dänischen Mohammed-Karikaturen im Februar 2006 beobachten.Während sich brave Europäer über Entschuldigungen bei vorgeblich oder wirklich beleidigten Muslimen den Kopf zerbrachen, drehten anonyme Aktivisten im Irak weiter am Rad der Provokation oder besser: der kriegerischen Selbststimulierung, indem sie die Goldene Moschee von Samarra, eines der wichtigsten schiitischen Heiligtümer nördlich von Bagdad, durch einen Bombenanschlag zerstörten, mit dem Ergebnis, daß bei Gegenangriffen Dutzende sunnitischer Gotteshäuser verwüstet wurden. Die Vorgänge sprechen eine deutliche Sprache. Sie sagen mehr über den Anlaßhunger der zum Losschlagen bereiten Gruppen als über einen vorgeblich unausweichlichen Konflikt der Kulturen. Es täte den Agitatoren leid, wenn sie zur Kenntnis nehmen müßten, daß es den äußeren Anlaßgebern wirklich leid tut.
    In dieser Sicht ist es zulässig zu sagen, daß der Islam, in islamistischer Verwendung, sich zu einem religiösen Readymade wandeln konnte, das sich ausgezeichnet zu mobilisatorischen Zwecken eignet. 32 Seine Tauglichkeit hierzu geht auf Merkmale der muslimischen Glaubenslehre zurück, die von Anfang an den Kampf gegen die »Ungläubigen« auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Der unvorbereitete Leser des Koran kommt nicht umhin zu staunen, wie ein heiliges Buch, ohne Furcht davor, sich selbst zu dementieren, nahezu auf jeder Seite den Feinden des Propheten und des Glaubens die Pein ewigen Feuers anzudrohen vermag. Über dieses Befremden helfen auch die Erklärungen der Gelehrten kaum hinweg, die die polemischen Passagen des Korans aus dem historischen Kontext herleiten wollen: Der Prophet übe da eine Art von frühsozialistischer Kritik an den Reichen seiner Zeit, den arroganten und rücksichtslosen Händlern von Mekka, die nichts mehr hören wollten von den egalitären und generösen Werten der altarabischen Stammeskultur. Andiese habe Mohammeds Lehre angeknüpft, als er sein Gefolge zur Fürsorge für die Schwachen verpflichtete. Auch der zunächst plausibel scheinende Hinweis auf das monotheistische Privileg des Eiferns für Gott und gegen die Ungläubigen liefert keine ganz zureichende Erklärung, da ebenso evident ist: Kein Mensch würde sich um die dunklen Koranstellen kümmern, wären da nicht die Millionen zählenden gewalthungrigen Gottsucherbanden, die sich die Worte zu ihren kommenden Taten zurechtlegen (indessen die vergleichbar heißen Stellen der alttestamentarischen Rachepsalmen das spärliche Publikum von Kirche und Synagoge seit langem kaltlassen).
    Die neuen Mobilisationen – ob sie nun korantheologisch legitim sind oder nicht – könnten, bei gleichbleibend hohen Geburtenraten, allein in der arabischen Hemisphäre bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts ein Reservoir von mehreren hundert Millionen junger Männer beeinflussen, die einen existentiell attraktiven Sinnhorizont wahrscheinlich allein im Aufbruch zu politisch-religiös bemäntelten Selbstvernichtungsprojekten finden. In Tausenden von Koranschulen, die jüngst überall aus dem Boden gestampft werden,
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