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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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Kommunismus in der Rolle einer Weltoppositionsbewegung niedrig anzusetzen. In Wahrheit sind sie völlig illusorisch. Man sieht schlechterdings nicht, wie von ihm eine neue universale Kollekte der Dissidenzpotentiale in den Ländern des globalisierten Kapitalismus organisiert werden könnte. Hingegen wird eine Reihe von regionalen Großbanken des Zorns noch über längere Zeiträume gewaltige thymotische Potentiale akkumulieren. Aber sie werden aller Voraussicht nach ihr Kapital blutig verschwenden, statt es in zukunftsfähige Kultur- und Wirtschaftsunternehmen zu investieren. Für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts bilden die islamistischen Jugendbewegungen in einem Dutzend Ländern des Nahen und Mittleren Ostens die ausstrahlungsmächtigsten Unruheherde auf den Krisenweltkarten der strategischen Analysten. Doch was auch immer die islamistischen Vorstöße zu einer Politik des Zorns in den nächsten Jahrzehnten in die Welt setzen – und die kommenden zwanzig, dreißig Jahre könnten zu den fatalsten Perioden aller Zeiten geraten, wenn worst case -Annahmen sich materialisieren: Ihre Projekte werden ausimmanenten Gründen schwerlich über das Niveau einer politischen schwarzen Romantik hinausgelangen. So wäre das Prinzip von Mobilmachungen zu bezeichnen, die auf dem Umweg über gottgewollte Kämpfe ein dunkles Ziel anstreben: die Selbstvernichtung der Überflüssigen.
    Wer an der Forderung festhält, die Weltgeschichte müsse sich als das Weltgericht vollziehen, hat enttäuschende Zeiten vor sich. In jedem Fall würde man sich nach anderen Richtern umsehen müssen. Da man von Strafgerichten nichts Gutes zu erwarten hat, dürften es künftig allenfalls Schiedsgerichte sein. Nach Lage der Dinge kommt für diese Rolle jetzt allein der globale Kapitalismus in Frage. Nur er könnte in seiner nächsten Spielrunde zu einem Gegner seiner selbst heranwachsen, der sich hinreichend unter Spannung setzt, um sich wie einen Herausforderer auf Sein oder Nichtsein ernst nehmen zu müssen.

Konklusion
Jenseits des Ressentiments
    Nach allem, was im Gang dieser Untersuchung gesagt wurde, wäre es abwegig, zu behaupten, der Zorn habe seine besten Zeiten hinter sich. Wir haben uns im Gegenteil davon überzeugt, daß der Zorn (zusammen mit seinen thymotischen Geschwistern, dem Stolz, dem Geltungsbedürfnis und dem Ressentiment) eine Grundkraft im Ökosystem der Affekte darstellt, ob interpersonal, politisch oder kulturell. Diese These bleibt gültig, auch wenn sich der Zorn künftig nicht mehr in universalen Kollekten von kommunistischem Typ verdichten kann, sondern es nur noch zu regionalen Sammlungen bringt. Geht man von der Voraussetzung aus, hinter die erreichte Stufe der politischen Psychologie solle nicht mehr zurückgegangen werden, müssen die hier (unter vielfältiger Anregung) behandelten thymotischen Energienin einem gerechteren Bild des Realen offiziell akkreditiert werden, sosehr sie bislang einer organisierten Verkennung zum Opfer gefallen waren.
    Was wirklich an ein Ende gekommen ist und sich gegenwärtig in voller Auflösung zeigt, ist die psychohistorische Konstellation des religiös und politisch überhöhten Vergeltungsdenkens, das den christlich-sozialistisch-kommunistischen Prozeßraum prägte. Für deren Merkmal hatte Nietzsche den Begriff gefunden, als er – mit Blick auf Paulus und seine Erfindung »Christentum« – die Diagnose traf: Auch das Ressentiment vermag genial zu werden. Solange die Liaison von Geist und Ressentiment stabil war, konnte das Verlangen nach Gerechtigkeit für die Welt – sei es jenseits des irdischen Lebens, sei es in der geschehenden Geschichte – zu den Fiktionen Zuflucht nehmen, die hier ausführlicher behandelt wurden: der Theologie des Gotteszorns und der thymotischen Weltwirtschaft des Kommunismus. Was in beiden Systemen auf dem Spiel stand, war nicht weniger als die Richtigstellung der Leidens- und Unrechtskonten einer moralisch unbalancierten Welt. Beide versuchten sich an der Aufgabe, das Ressentiment zu positivieren, um den Sinn für die Unannehmbarkeit der Unrechtswelt wachzuhalten. Ihren Anstrengungen ist es zu verdanken, wenn sich in der westlichen Zivilisation das hoch unwahrscheinliche Phänomen »Kritik« ausbildete – sofern wir unter Kritik den vom genialisierten Ressentiment befeuerten Geist der Nichtunterwerfung unter bloße Tatsachen, namentlich Unrechtstatsachen, verstehen. »Kritik« in diesem Sinn ist kein absolutes Privileg des Westens, sosehr sie in ihm zu
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