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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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abzielt. Den Zorn besingen heißt ihn denkwürdig machen, was aber denkwürdig ist, steht dem Eindrucksvollen und dauerhaft Hochzuschätzenden nahe, ja geradezu dem Guten. Diese Wertungen sind den Denk- und Empfindungsweisen der Modernen so stark entgegengesetzt, daß man wohl zugeben muß: Ein unverfälschter Zugang zum Eigensinn des homerischen Zornverständnisses wird uns in letzter Instanz versperrt bleiben.
    Nur indirekte Annäherungen helfen weiter. Wir verstehen immerhin, es handelt sich nicht um den heiligen Zorn, von dem die biblischen Quellen sprechen. Nicht um die Empörung des Propheten angesichts widergöttlicher Greuel, nicht um den Zorn des Moses, der die Tafeln zerbricht, während sich das Volk mit dem Kalb vergnügt, nicht um den schmachtenden Haß des Psalmisten, der den Tag nicht erwarten kann,an dem der Gerechte seine Füße baden wird im Blut der Frevler. 1 Auch hat der Zorn des Achilles wenig gemeinsam mit dem Zorn Jahwes, des frühen, noch ziemlich unsublimen Gewitter- und Wüstengottes, der als »schnaubender Gott« vor dem Exodusvolk her zieht und dessen Verfolger in Unwettern und Fluten vernichtet. 2 Doch ebensowenig sind die profanen menschlichen Zornattacken gemeint, die den späteren Sophisten und philosophischen Morallehrern vor Augen stehen, wenn sie das Ideal der Selbstbeherrschung predigen.
    Die Wahrheit ist, Homer bewegt sich in einer von einem glücklichen Bellizismus ohne Grenzen erfüllten Welt. Wie düster die Horizonte dieses Universums aus Kämpfen und Toden auch sein mögen, der Grundton der Darstellung ist bestimmt durch den Stolz, Zeuge solcher Schauspiele und Schicksale sein zu dürfen. Ihre leuchtende Sichtbarkeit versöhnt mit der Härte der Tatsachen – das ist es, was Nietzsche mit dem Kunstwort »apollinisch« bezeichnet hatte. Kein moderner Mensch kann sich in eine Zeit zurückversetzen, in der die Begriffe Krieg und Glück eine sinnvolle Konstellation bilden; für die ersten Hörer Homers sind sie ein unzertrennliches Paar. Das Band zwischen ihnen wird durch den Heldenkult alten Stils gestiftet, der den Modernen nur noch in den Anführungszeichen der historischen Bildung gegenwärtig ist.
    Für die Alten war der Heroismus keine feinsinnige Attitüde, sondern die vitalste aller möglichen Stellungnahmen zu den Tatsachen des Lebens. In ihren Augen hätte eine Welt ohne Heldenerscheinungen das Nichts bedeutet – den Zustand, in dem die Menschen der Monarchie der Natur ohne Gegenwehr preisgegeben wären. Die physis bewirkt alles, der Mensch kann nichts, so hätte das Prinzip eines heldenlosen Universums gelautet. Der Heros hingegen liefert den Beweis, daß auch von menschlicher Seite her Taten und Werke möglich sind, sofern göttliche Begünstigungen sie zulassen – und allein als Tatentäter und Werkevollbringer werden die frühen Heroen gefeiert. Ihre Taten zeugen für das Wertvollste, was die Sterblichen, damals wie später, erfahren können: daß eine Lichtung aus Nicht-Ohnmacht und Nicht-Gleichgültigkeit in das Dickicht der naturwüchsigen Gegebenheiten geschlagen worden ist. In Berichten von Taten leuchtet die erste gute Nachricht auf: Unter der Sonne ereignet sich mehr als das Gleichgültige und Immergleiche. Indem wirkliche Taten vollbracht wurden, beantworten die Berichte von ihnen die Frage: Warum tun Menschen überhaupt etwas und nicht eher nichts? Sie tun es, damit die Welt durch Neues und Rühmenswertes erweitert werde. Da es Vertreter des Menschengeschlechts waren, obschon sehr außerordentliche, die das Neue vollbrachten, öffnet sich für die übrigen ein Zugang zu Stolz und Staunen, wenn sie von den Taten und Leiden der Heroen hören.
    Das Neue darf allerdings nicht als Nachricht vom Tage auftreten. Es muß, um legitim zu sein, als Prototypisches, Ältestes, ewig Wiederkehrendes sich tarnen und sich auf die lange vorherbedachte Zustimmung der Götter berufen. Gibt Neues sich als vorzeitliches Geschehen aus, entsteht der Mythos. Das Epos ist dessen beweglichere, breitere und festlichere Form, geeignet für den Vortrag auf Burgen, Dorfplätzen und vor frühem städtischem Publikum. 3
    Die Forderung nach dem Helden ist Voraussetzung für alles, was nun folgt. Nur weil der schreckenerregende Zorn für die kriegerische Heldenerscheinung unverzichtbar ist,darf sich der Rhapsode an die Göttin wenden, um sie für vierundzwanzig Gesänge zu engagieren. Wäre der Zorn, den die Göttin zu besingen helfen soll, nicht selber von höherer Natur, würde schon der
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