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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein
Autoren: Mayer Gina
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Aber für Mira war es schwerer als alles andere.
    »Nero hat mich einmal gewarnt«, meinte sie, als sie später die Teller zum Spülstein trugen. »Er hat mir geraten, mich in Sicherheit zu bringen, weil es wieder Krieg geben würde.«
    Gudrun zündete sich eine neue Zigarette an, obwohl sie mit dem Abspülen an der Reihe war. »Ach was! Warum sollte es jetzt Krieg geben? Das hatten wir doch gerade erst. Wir haben doch wirklich ganz andere Probleme. Aber andererseits … Vielleicht hat er recht. Vielleicht solltest du hier weg. Und ich mit dir.«
    »Aber wohin?«, meinte Mira. Der Wasserkessel begann zu pfeifen, sie drehte die Gasflamme aus und schüttete das heiße Wasser in die Spülschüssel. Gudruns Zigarettenrauch verschwand in einer Wand aus Wasserdampf. »In die Schweiz? Nero hat mir oft von Zürich erzählt. Es muss dort sehr schön sein.« Ein großer blauer See und ein Berg, auf dem man picknicken konnte. Eine Badeanstalt nur für Frauen mitten im Fluss.
    »Die Schweiz? Was willst du denn in der Schweiz? Dort steht die Zeit still.«
    »Oder nach Australien«, fuhr Mira fort. »Ich habe darüber gelesen. Alles ist ganz neu und jung da. Lass uns nach Australien gehen!«
    »Neuseeland soll auch nicht schlecht sein.« Gudrun blies noch mehr Zigarettenrauch in den Wasserdampf. Ihre Augen wurden ganz schmal, als könnte sie in dem weiß schillernden Dampf etwas sehen, das Mira nicht sah. »Wir könnten eine Schafzucht aufmachen. Wolle ist immer gefragt.«
    »Oder wir wandern nach Amerika aus. Du drehst Filme, und ich sehe sie mir an, und nebenher waschen wir Teller.«
    Gudrun nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, dann warf sie den glimmenden Stummel aus dem Dachfenster. »Ist das dein Ernst?«, fragte sie. »Kannst du dir das wirklich vorstellen, wegzugehen, auszuwandern, nie mehr wiederzukommen? Etwas ganz Neues anzufangen?«
    Mira starrte auf ihre Hände im Spülwasser, rosa Fische, die hier und da zwischen Schaumfetzen auftauchten. Sie musste plötzlich an Otto denken, was er kürzlich zu ihr gesagt hatte. Dass die Wirklichkeit aus unendlich vielen Schichten bestand und der weitaus größere Teil davon unverständlich war.
    »Ja«, sagte sie. »Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass etwas Neues beginnt.« Sie zog ihre Hände aus dem Wasser und trocknete sie an ihrer Schürze ab.
    »Und du?«, fragte sie dann zurück.
    »Mich hält hier nichts. Im Gegenteil. Mir ist dieses Land so verleidet, dieses Rennen und Hasten und Streben nach mehr und mehr. Die so genannte feine Gesellschaft. Und am Ende stirbt man und hat gar nicht gelebt.«
    Ob Gudrun über die Pressmann sprach oder über sich selbst? Vielleicht tat es ihr ja inzwischen doch leid, wie sie sie abgefertigt hatte. Vielleicht vermisste sie sie sogar. Auch wenn sie es niemals zugeben würde.
    »Ich will das alles nicht mehr. Ich kann es nicht mehr ertragen«, sagte Gudrun in Miras Gedanken hinein.
    »Also wandern wir aus.« Der Satz machte Mira ein bisschen schwindlig, wie ein Cocktail auf nüchternen Magen.
    Sie dachte an ihre Mutter. Wenn Mira fortging, würde ihre Mutter zurückbleiben, so wie Mira in Heiligenbronn zurückgeblieben war.
    Quid pro quo, dachte Mira. Das hatte Herr Anschütz immer gesagt, wenn es darum ging, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
    Quid pro quo, das hätte sie früher überzeugt. Heute war es viel schwieriger. Denn heute kannte sie die ganze Geschichte.Und sie verstand, dass man eine Tat niemals gegen eine andere aufrechnen kann, weil sich nichts wiederholt. Alles, was geschieht, ist einzigartig. Die Vergangenheit wächst in die Gegenwart wie ein alter Baum, der immer wieder neue Äste und Blätter bildet.
    »Was wird aus meiner Mutter?«, murmelte sie.
    »Was soll aus ihr werden?«, fragte Gudrun zurück. »Sie hat einen neuen Großauftrag von Tietz und Elfie, die sie anhimmelt, und Hilde, die in Kürze Mutter wird. Maria soll die Taufpatin werden. Hat sie dir das nicht erzählt?«
    Mira schüttelte den Kopf. Es gab so viele Dinge, die sie nicht wusste. Wenn sie wegging, würde sie sie nie erfahren. Wenn sie hier blieb, auch nicht. Mutter und ich sind viel zu weit voneinander entfernt, dachte Mira. Wir sind zwei Sterne, die auf der gleichen Bahn um die Sonne fliegen, wir werden uns niemals berühren.
    »Wohin sollen wir gehen?«, fragte sie.
    »Das ist doch nicht so wichtig«, sagte Gudrun. »Wir fangen irgendwo an, und wenn es uns nicht gefällt, ziehen wir weiter. Die Welt ist zum Glück unendlich groß.«
    Und es
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