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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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darauf verzichtet, es sich in der literarischen Welt behaglich einzurichten und arbeitete noch immer als Gefängnisseelsorger. Seit Jahrzehnten achteten die Tzigani aus Rothberg ihn als ihren Schutzpatron. Auf die Frage, was er selbst von den Zigeunern gelernt habe, sagte er, ohne zu zögern: »Lebenslust und Gottvertrauen.«
    Für Schlattner führte nur ein Weg die Roma aus ihrer Misere: »Schule, Schule, Schule! Wo Kinder von ihren Eltern verprügelt und misshandelt werden, nur weil sie lernen möchten, stellt sich die Frage der Diskriminierung anders als in den Diskussionen der Akademiker.« Der Sachse hatte für seine Vision der Integration der Zigeunerkinder zu zahlen. Real, nicht symbolisch. Carmens Vater kassierte jeden Monat umgerechnet fünfzig Euro. Mit derlei Zahlungen erkaufte der Pfarrer Jungen und Mädchen aus dem Unterdorf die Erlaubnis zum Schulbesuch. Vor Schlägen bewahren konnte er seine Schützlinge damit nicht.
    Bei meinem letzten Besuch wohnte die mittlerweile siebzehnjährige Carmen mit einer orthodoxen Ordensfrau in einem Seitentrakt der alten Pfarrei. Zuvor hatte Carmen in einem Hermannstädter Hospital gelegen, mit schweren Verletzungen, halbtot geschlagen vom eigenen Bruder. Carmens Eltern hatten teilnahmslos zugesehen, als der Wüterich den Kopf des Mädchens immer wieder gegen eine Wand hämmerte. Er wollte ihr die Gedanken austreiben, aus ihr könne etwas Besseres werden.
    Schon im Oberdorf auf dem Spielplatz in der Šcoală Waldorf war mir Carmen aufgefallen. Sie trug verblichene Combat-Hosen, hatte ihr Haar unter einer Mütze versteckt und alles Frauliche an sich verborgen. Von Weitem hatte sie ausgeschaut wie eine verhinderte Kriegerin, der es irgendwie nicht gelingen wollte, Unnahbarkeit auszustrahlen. Im Schutz des geschichtsträchtigen Pfarrhauses, bei einer Tasse Tee, hatte Carmen ihren burschikosen Gestus abgelegt. Stattdessen zeigte sich ein empfindsamer, etwas verhuschter Mensch, mit anrührend sanftmütigem Lächeln. In knapp einem Jahr würde sie achtzehn sein. Und damit volljährig. Mit Pfarrer Schlattner hatte Carmen des Öfteren schon über ihre Zukunft gesprochen. Fest stand nur, sie würde niemals mehr in die Ziegelhütten im Unterdorf zurückkehren.
    »Krankenpflegerin«, sagte sie, das sei ihr Traum. Eginald Schlattner wusste, dass dieser Wunsch Carmens Wesensart entsprach. Und jeder, der sie sah, wusste es auch. Auf dem Weg zu einer Ausbildung gab es nur ein Hindernis.
    Die achte Klasse!
    Um sie abzuschließen, wurden elementare mathematische Kenntnisse verlangt. Eine mächtige Hürde für eine junge Frau, deren Freundlichkeit zwar jeden Raum erwärmte, die aber rechnete, 300 minus eins ergebe 290.
    Ob Kinder im slowakischen Rudnany oder im ukrainischen Pawschyno aufwuchsen, im makedonischen Shutka oder im bulgarischen Stolipinovo, das Bildungsdesaster in den Roma-Kommunitäten wies lediglich graduelle Unterschiede auf, keine prinzipiellen. Wenn in Publikationen immer das Gandhi-Gymnasium im südungarischen Pécs als leuchtendes Beispiel einer Eliteschule von und für Roma angeführt wird, so unterstreicht das lediglich die Einzigartigkeit der Lehranstalt. Obschon die Chancen, im Gandhi das Abitur zu erlangen, zehn Mal höher liegen als im ungarischen Landesdurchschnitt, erreicht von fünf der aufgenommen Jungen und Mädchen nur einer oder eine die Hochschulreife. Die erfolgreichen Absolventen aus Pécs täuschen nicht darüber hinweg, dass der Anteil der Roma mit Matura in Ungarn weniger als ein Prozent beträgt. In Rumänien, Bulgarien oder Makedonien ist die Lage noch deprimierender. Und manch ein Vorzeige-Rom, den Nichtzigeuner als Musterbeispiel akademischer Leistungsfähigkeit anführen, löst statt Anerkennung eher Befremden aus. So stellte der Kölner Rom e. V. 2010 den »besten Studenten« unter den serbischen Zigeunern in einem Rundbrief mit den Worten vor: »Ich schwöre, ich werde eines Tages ein erfolgreicher Familienvater sein, der sich nicht schämen wird, zur Arbeit zu gehen.« Antizigane Vorurteile abbauen sieht irgendwie anders aus.
    Ausnahmslos alle Pädagogen, mit denen ich je zu tun hatte, machten für die Bildungsmisere zwei Ursachen aus. Erstens die gesellschaftliche Ächtung und die Gleichgültigkeit gegenüber den Roma. Zweitens den Mangel an Eigeninitiative bei den Zigeunern selbst. Als Ausgegrenzte waren die Roma bildungspolitische Opfer, mit ihrem hohen Anteil an Schulverweigerern aber auch eigenverantwortliche Täter. In keinem
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