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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner
Autoren: Bauerdick Rolf
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werden. Wenn sie bemerkte, dass sie geknipst wurde, setzte sie eine kecke Miene auf, lächelte gewinnend und ließ die Spuren ihrer Vernachlässigung vergessen, wobei ihre verschmutzten Kleider und verfilzten Haare lediglich die äußere Verwahrlosung verrieten. Auf Bildern indes, die Lili in selbstvergessenen Momenten zeigen, entdeckt man in ihrem Gesicht die Züge einer erschreckenden Härte. Lili war acht, doch manchmal sah sie aus wie eine verhärmte, alte Frau.
    Zähe Überzeugungskämpfe waren nötig, bis die Eltern aus dem Unterdorf ihren Kindern erlaubten, im Oberdorf den Umgang mit Buchstaben und Zahlen zu erlernen. Denn es ist nicht so, dass die Tzigani begierig jedes Lernangebot wahrnehmen, das ihnen offeriert wird. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Roma sehen in Bildung und Erziehung keinesfalls eine Chance, der Armut und der Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu entrinnen. Wenn der tschechische Rom Ivan Veselý klagt, dass ein Großteil der Zigeunerfamilien nicht begriffen habe, »wie notwendig eine gute Ausbildung heutzutage ist«, dann ist anzumerken, dass die entwurzelten Generationen Bildung oft als Bedrohung erleben. Wissen stärkt das Selbstbewusstsein von Kindern. Und selbstsichere Jungen, Mädchen noch mehr, stellen familiäre Hierarchien und tradierte Machtverhältnisse in Frage. Arbeitslose Väter, des Lesens und Schreibens nicht kundig, befürchten zu Recht den Verlust einer Autorität, die sie allerdings längst nicht mehr besitzen, zumal sie die Rolle als Familienoberhaupt und Garant der wirtschaftlichen Existenzsicherung nicht mehr ausfüllen können. In der Slowakei machte der Autor Karl-Markus Gauß dieselbe Beobachtung und zog das Fazit: »Sollte in zehn, zwanzig Jahren eine neue Generation von Roma herangewachsen sein, die immerhin die Pflichtschule besucht hat, wird es um Macht, Ehre und Stolz dieser Männer geschehen sein. Schon jetzt bestritten sie ihre Existenz hauptsächlich, indem sie herumstanden und die Frauen dabei behinderten, das Haus in Ordnung zu halten und die Kinder in die Schule zu schicken.«
    Erklärtes Ziel der Šcoală Waldorf war es, einem Gutteil ihrer fünfundachtzig Kinder den Abschluss der Klasse VIII zu ermöglichen. Diese Hürde markierte eine Grenze. Sie zu überschreiten war in Rumänien für eine weiterführende Berufsausbildung unbedingt erforderlich. Und neuerdings auch für den Erwerb des Führerscheins, was besonders für die Roma als Anreiz gedacht war, ihren Kindern einen achtjährigen Schulbesuch zu ermöglichen. Trotzdem maßen viele Tzigani der Schule keinen Wert bei, ja, sie kämpften sogar dagegen an.
    »Wozu brauchst du Klasse acht«, wurde die Schülerin Carmen von ihrer Mutter angegiftet, »willst du Direktor werden?« Es blieb nicht bei bloßen Worten. Carmens Mutter, eine hochgradig streitsüchtige Frau, schlug zu. Einmal sogar mit einem Spaten. Auf Carmens Kopf. Auch von ihrem Vater wurden Carmen und ihre Schwester Angela verprügelt. Immer wieder, bis aufs Blut.
    Häusliche Gewalt war im Unterdorf von Roşia nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Deshalb bot die Waldorfschule den Kindern mehr als nur einen Ort des Lernens. Sie gewährte auch Schutz vor jähzornigen Eltern. »Wenn man aus einem unverfänglichen Grund die Hand hebt, zucken die Kinder zusammen und ducken sich weg«, erzählten Annette Wiecken und ihr Pädagogenteam. »Die Kinder fürchten sich vor Schlägen, die in vielen Familien alltäglich sind. Vor allem gegenüber Mädchen und Frauen.« Banalste Konflikte lösten heftigste Streitereien aus. Selbst bei nichtigen Anlässen gingen Kleinkinder aufeinander los, rissen sich Haare aus oder hauten sich die Nasen blutig.
    Während sich Carmens jüngere Schwester Angela dem familiären Terror entzog, indem sie tagelang durch die Gegend streunte, fand Carmen Schutz bei dem wohl bekanntesten Siebenbürger Sachsen Rumäniens. Als ich zum ersten Mal Roşia besuchte, waren mir die Romane Rote Handschuhe und Der geköpfte Hahn bekannt, auch hatte ich gelesen, dass der erzählmächtige Schriftsteller und evangelische Pfarrer Eginald Schlattner in einem Ort namens Rothberg lebte. Dass aber das rumänische Roşia und der Sachsenweiler Rothberg zwei Namen für ein und dasselbe Dorf waren, hatte ich nicht realisiert.
    Fünf, sechs alte Sachsen lebten noch in Rothberg. In der verwaisten Wehrkirche las Schlattner sonntags die Messe vor leeren Bänken. »Nur für mich selbst«, wie er sagte. 2011 zählte er achtundsiebzig Jahre. Er hatte
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