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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Autoren: Willi Faehrmann
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Tür, wenn er zudringlicher wurde. Vier Friedhöfe hatte er abgesucht. Auf zweien hatte er riesige Grabhügel gefunden.
    »Hier liegen viele, viele.« Das war das Einzige, was er aus einem alten Totengräber herausbekommen hatte.
    »Ohne Pfarrer, ohne einen letzten Segen in die Erde!«, klagte Frau Podolski. »Wie ein Stück Vieh, ganz einfach ins Loch geworfen. Schrecklich. Nicht einmal mehr vor den Toten ziehen sie ihren Hut!«
    Schließlich gab der Junge es auf, nach seinem toten Bruder zu forschen. »Aber der Mörder, der kommt mir nicht davon«, sagte Bruno wohl zehnmal am Tag.
    Paul fühlte sich oft einsam in der riesigen Stadt. Sicher, er hatte Arbeit in der Lokomotivfabrik Borsig gefunden. Ein großer Staatsauftrag ließ den Betrieb auf Volldampf laufen. Die Koststelle bei Frau Podolski war auch nicht übel, wenn er davon absah, dass es in seinem Zimmer immer noch scharf nach dem Kammerjäger roch, der die Wanzen wenigstens für eine Weile ausgeräuchert hatte. Zwei lange Briefe hatte Paul inzwischen an seine Eltern geschrieben. Er hatte danach gefragt, ob man im Dorf die Anschrift des jungen Warczak in Gelsenkirchen kenne, hatte von seiner Arbeit berichtet und von der riesigen Stadt. Das hatte auf dem Papier alles sehr schön ausgesehen und sein Vater hatte ihm in einem kurzen Brief geantwortet und geschrieben, dass er stolz sei auf seinen Sohn, der in dieser schwierigen Zeit Boden unter die Füße bekommen hätte. Hubert Warczaks Adresse hatte er ganz unten auf dem Briefbogen notiert.
    Pauls Briefe zeigten aber nicht, wie ihm eigentlich zumute war. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er mit dem Jungen über Liebenberg sprach, über das Dorf an der Grenze, in dem sie aufgewachsen waren. Jeder hatte dort von jedem gewusst, sie kannten die Standplätze der guten Apfelbäume und jene Stellen im Wald, an denen nach einem warmen Sommerregen die Pfifferlinge aus dem Boden schossen.
    Ja, selbst bei den Soldaten war es anders gewesen als in Berlin. Da hatte die Angst ihnen beigebracht, dass einer auf den anderen angewiesen war. Paul dachte oft an seinen Unteroffizier Karl Schneider, einen Mann aus dem Süddeutschen. Der war nur drei Jahre älter als er selbst. Schon in den ersten Kriegstagen im August 1914 war Karl eingezogen worden. Er erzählte dem Jungen von diesem seinem besten Freund, der auch Schlosser gelernt hatte. In Berlin, so hatten sie ausgemacht, wollten sie sich nach dem Krieg gemeinsam eine Arbeit suchen. Aber dann war alles anders gekommen. Zwei Tage bevor die Truppen in Frankreich den Befehl bekamen, die Kämpfe einzustellen und nach Deutschland zurückzumarschieren, hatte es den Karl erwischt. Ein Schrapnellsplitter hatte ihm den linken Oberarm aufgeschnitten. Nicht so schlimm wie 1916 an der Somme, als es beinahe mit ihm aus gewesen wäre.
    »Fleischwunde«, hatte der Sanitäter gesagt. Geblutet hatte Karl wie ein Stück Vieh, aber dort an der Front, da klang »Fleischwunde« so, als ob sich einer in Friedenszeiten einen Holzsplitter unter den Nagel reißt. Der Sanitäter hatte Karl einen Pressverband angelegt und ihm die Richtung zum Verbandsplatz gezeigt. Seitdem war Karl dem Paul aus den Augen gekommen.
    Was von Pauls Kompanie übrig geblieben war, das war mit den Armeen quer durch Deutschland gezogen, teils mit Viehwagen der Eisenbahn, teils auch zu Fuß. Am 10. Dezember 1918 marschierten die ersten Felddivisionen in Berlin ein. Ihre Waffen führten sie mit sich. Paul hatte noch zwanzig Schuss scharfe Munition in den Patronentaschen am Koppel und seinen Karabiner über der Schulter. Am Brandenburger Tor hatte der Oberbürgermeister Wermuth sie empfangen. Der Reichskanzler Friedrich Ebert hatte sogar eine Rede gehalten. Die war Paul ans Herz gegangen, obwohl in den Kriegsjahren so manche großen Worte verschlissen worden waren.
    »Kein Feind hat euch überwunden«, rief der Kanzler den Soldaten zu. »Nun liegt Deutschlands Einheit in eurer Hand!«
    Aber zu viel hatte in der Hand der Soldaten gelegen, in zu viel Dreck und Blut hatten sie greifen müssen, zu viele Tote hatten sie verscharrt, zu viele grobe Kreuze in flache Grabhügel gedrückt, zu selten hatten sie Brot in den Händen gehalten und zu selten Blumen.
    Jedenfalls hatte Paul es an diesem Dezembertag so gemacht wie die meisten anderen Soldaten auch. Er hatte seine Waffen auf einen Haufen geworfen und sich nach einer Schlafstelle und nach Arbeit umgesehen. Die Waffen waren allerdings nicht auf diesem Haufen liegen geblieben. Paul
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