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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Autoren: Willi Faehrmann
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hinter einem Offizier hermarschierten. Der Junge zeigte auf einen anderen Offizier, der neben der Kolonne herging. »Das ist er«, sagte er.
    Paul fand das Foto ziemlich unscharf, aber er musste zugeben, dass die Gestalt der ähnelte, die in der Nacht zum Sonntag auf Wilhelm geschossen hatte.
    »Ich habe ihm ins Gesicht geschaut«, behauptete Bruno. »Eine Narbe lief quer über die rechte Schläfe bis in die Haare hinein. Niemals werde ich sein Gesicht vergessen.«
    Die anderen Gäste am Tisch waren aufmerksam geworden. Paul erklärte ihnen mit ein paar Sätzen, dass der Junge in der Nacht zum vergangenen Sonntag bei seinem schwer verwundeten Bruder gesessen hätte und was dann auf dem Platz geschehen war.
    »Bluthunde! Das sind Bluthunde«, sagte einer erbittert und fingerte erregt an den Knöpfen seiner schwarzen Wolljacke. »Und der Noske an der Spitze ist der allerschärfste Hund.«
    Ein älterer Mann mit einem kurzen Bürstenhaarschnitt widersprach heftig. »Hör auf damit! In den Freikorps sind mehr anständige Kerle als bei den Revoluzzern.«
    »Wie du an diesem Beispiel siehst«, höhnte der in der Wolljacke. »Einen Mann, der schwer verwundet daliegt, ganz einfach abzuknallen! Pfui Deibel!«
    »Und die Handgranate, die der Revoluzzer aus dem Gürtel zog, das ist wohl gar nichts, wie?«, ereiferte sich der, der den Freikorps gut gesinnt war. Er nahm die Zeitung und las die Bildunterschrift vor: »Gestern schlug so manches deutsche Herz höher. Das Freikorps Werwolf marschierte. Endlich sorgen famose Truppen dafür, dass wieder Ordnung und Disziplin einkehren.«
    »Die Toten legen sie in Reih und Glied ins Massengrab. Das ist ihre Ordnung«, schrie einer.
    »Wenn ihr euch prügeln wollt, geht nach draußen«, rief die Wirtin Olga und zeigte mit dem ausgestreckten Arm zur Tür. Der, der die Freikorps verteidigt hatte, stand auf, rief: »Was sollen die Soldaten denn machen, wenn sie aus dem Hinterhalt angegriffen werden?«, und ging wütend weg.
    »Hau ab! Zusammengeschossen haben sie unsere Revolution!«, schallte es ihm nach.
    Die Zeitung ging von Hand zu Hand, einige Bemerkungen wurden gemacht, aber dann wechselten die Männer das Thema. Es waren bei den Kämpfen in diesen Januartagen so viele Hunderte umgekommen, Kanonen waren eingesetzt worden und Maschinengewehre. Straßenschlachten am Alexanderplatz, in der Friedrichstraße, der Lindenstraße und an vielen Orten waren entbrannt und die Regierungstruppen hatten schließlich das Verlagshaus des »Vorwärts« gestürmt, nachdem fünf Arbeiter, die mit einer weißen Fahne aus dem Gebäude kamen und verhandeln wollten, erschossen worden waren.
    Bruno nahm sein Taschenmesser heraus und schnitt sorgfältig das Foto aus der Zeitung. Der Offizier, den der Junge meinte, war wirklich nur undeutlich zu erkennen, aber Bruno schien seiner Sache ganz sicher zu sein. »Ich werde ihn anzeigen. Laut werde ich ›Mörder!‹ schreien, wenn er mir begegnet!«
    Seine Augen, viel zu groß in dem mageren Hungergesicht, waren dunkel vor Erregung. Bruno trug unter dem Pullover einen speckigen Brustbeutel aus Leder. Bruno zog den Beutel hervor. Sorgfältig faltete er das Zeitungsfoto zusammen und steckte es hinein.
    Sie zogen los. Paul, ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß, kräftig und ein wenig gedrungen, hatte seinen Arm um den Jungen gelegt, der ihm kaum bis an die Schulter reichte und neben ihm noch dünner aussah, als er in Wirklichkeit war.
    Was fange ich bloß mit dem Kind an?, grübelte Paul und murmelte: »Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wo die Warczaks sind.«
    Bruno hatte ihn verstanden und sagte: »Der Hubert Warczak ist schon lange weg aus Liebenberg. Mit Sack und Pack ist er damals ins Ruhrgebiet gegangen. In Gelsenkirchen hatte Onkel Warczak Verwandte. Dort wollte der Hubert hin.«
    »Meinst du, du könntest bei dem Hubert Warczak unterkommen?«, fragte Paul.
    »Lieber möchte ich bei dir bleiben, Paul«, sagte der Junge leise.
    In den folgenden Tagen rannte der Junge von einer amtlichen Stelle zur anderen. Er versuchte herauszufinden, wohin die Männer auf dem Planwagen die Leiche seines Bruders gebracht hatten.
    »Ich will wenigstens wissen, wo er verscharrt worden ist«, hatte er verbissen gesagt, wenn Frau Podolski oder Paul ihn davon abzubringen versuchten. Aber wohin er auch lief, wen er auch fragte, niemand konnte ihm eine Auskunft geben. In den Ämtern schaute man flüchtig in die Listen, zuckte die Schultern, schüttelte die Köpfe, wies ihm die
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