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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Autoren: Willi Faehrmann
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lasse mir bis dahin etwas einfallen.«
    Als er merkte, dass Bruno ihn unentwegt anstarrte, fügte er hinzu: »Hab keine Angst, Junge. Der Wilhelm war mein Freund. Du bist sein Bruder. Wir Liebenberger halten zusammen. Werd ich dich etwa im Stich lassen?«
    Bruno drehte sich zur Wand. Paul deckte ihm den Rücken zu und legte sich auf sein Bett. Er überlegte hin und her. Es war eine verzwickte Situation. Die Kurpeks hatten sich damals, als die Russen 1914 über die Grenze nach Ostpreußen eindrangen, in Richtung Ortelsburg aus dem Staube gemacht. Sie waren jedoch von der Front überrollt worden. Seitdem blieben sie verschollen. Einige im Dorf munkelten, die Kurpeks hätten Schulden gehabt. Sie hätten die Gelegenheit zum französischen Abschied genutzt. Dem Pack habe ja nicht einmal mehr das Hemd am Hintern gehört. Aber die Lästerzungen verstummten, als das Land wieder frei war und der achtjährige Bruno und sein Bruder Wilhelm, kaum siebzehn, allein zurückkehrten. Die beiden Jungen waren damals auf den Wagen der Warczaks aufgesprungen. Die Warczaks waren mit den Kurpeks über drei Ecken verschwägert und wohnten zwei Häuser weiter die Dorfstraße abwärts. Die beiden Jungen hatten seit dem Tage der Flucht von ihren Eltern und Geschwistern nichts mehr gehört und gesehen. Weil keine anderen Verwandten in Liebenberg lebten, blieben Bruno und Wilhelm bei den Warczaks. Knapp ein Jahr später musste Wilhelm zu den Soldaten. Er hatte es durchgesetzt, zur Marine zu kommen.
    Der alte Lehrer Kolukken bot an, den Bruno bei sich aufzunehmen, weil er selbst keine Kinder habe. Der Junge habe einen hellen Verstand und aus dem könne, wenn er brav bleibe, wohl ein Pfarrer werden. »Oder ein Lehrer, wenn er weniger brav bleibt«, hatte der alte Warczak gesagt und dem Jungen die Wahl gelassen, zum Lehrer zu gehen und später ein Studierter zu werden oder bei den Warczaks zu bleiben und, wenn die Zeit dafür komme, ein Handwerk zu lernen, vielleicht Zimmermann bei Lukas Bienmann zu werden.
    Der Junge kannte den alten Lehrer Kolukken als einen aufbrausenden grobschlächtigen Mann, der oft seinen Ledergürtel von der Hose nahm und die Kinder versohlte. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Er blieb bei den Warczaks.
    »Weiß der Kuckuck«, murmelte Paul, halb schon im Schlaf, »weiß der Kuckuck, wie der Junge nach Berlin gekommen ist.« Ihm fiel ein, dass er 1917 noch ein paar Tage Urlaub in Liebenberg verbracht hatte. Er war mit seinem Vater auf den Bau gezogen. Der alte Lukas Bienmann war froh, für ein paar Tage seinen Sohn in der Kolonne zu haben, der einen schweren Sparren allein schleppen konnte. Auf dem Bau hatte Paul mit dem Warczak geredet und nach Wilhelm Kurpek gefragt. Der Warczak war wütend geworden und hatte gesagt, der Wilhelm sei ein verdammter Roter, und von einem, der schlecht über seinen Kaiser rede, wolle er nichts mehr wissen. Von Bruno war nicht die Rede gewesen.
    Und nun hatte er den Bruno aufgelesen. Wie eine Laus im Pelz. Du kommst daran und weißt nicht, wie du sie wieder loswerden sollst, dachte er, bevor er in einen flachen Schlaf sank.
    Erschrocken fuhr er hoch, als Frau Podolski einen wüsten Fluch ausstieß und schrie: »Perunje, wer hat mir dieses verdammte Kuckucksei ins Nest gelegt?«
    Ihre schwarzen Augen, in einem Faltengespinst tief eingebettet, funkelten. Sie riss das Oberbett weg. Auf dem Strohsack lag der Junge und machte sich so klein, dass er beinahe in seinem Hemd verschwand.
    »Ich habe ihn mitgebracht«, bekannte Paul. Er befürchtete, dass sie ihn nun aus Kost und Logis feuern würde. Zu seiner Verwunderung geschah das nicht. Sie schaute das Häufchen Elend an. Schreck und Härte wichen aus ihrem Gesicht. Sie warf dem Jungen die Zudecke wieder über den Körper und sagte: »Kommt in die Küche, ihr zwei. Wir werden darüber reden.«
    Mit einem Rest Groll in der Stimme fügte sie hinzu: »Wirst hoffentlich eine gute Erklärung dafür haben, du Satan!«
    »Wasche dich sauber und kämme dich ordentlich«, sagte Paul zu Bruno. »Auf so etwas legt sie Wert.«
    Als die Wanduhr zwölf schlug, hatte Paul Brunos Geschichte erzählt. Die Lücken hatte der Junge mit wenigen Sätzen gefüllt. Der Wilhelm habe ihn von Ostpreußen mit nach Berlin genommen. Sein Bruder sei Arbeiter bei der AEG gewesen. Vor ein paar Tagen hätten sie ihre gute Schlafstelle in Pankow verloren, weil die Wirtin mit den Roten nichts mehr zu tun haben wollte. Sie hätten sich in einem verlassenen Bahnwärterhäuschen
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