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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten
Autoren: Kitty Sewell
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Abend darüber sprechen wollen. Sie würden den Brief auf Hinweise überprüfen. Weitere Fragen würden sich stellen, und es gab nichts, was er zur Klärung beitragen konnte.
    Dafydd ging den Korridor entlang und bog in die Herrentoilette ab. Dort schloss er sich in eine Kabine ein. Er stellte seine Aktentasche auf den Boden und setzte sich auf den Toilettendeckel. Jemand kam herein, pinkelte, hustete laut, spuckte aus und drückte dann auf die Spülung. Er sah, wie ein paar Pantoffeln vorbeischlurften und aus der Tür gingen. Wie blöd. Was, zum Teufel, machte er hier eigentlich? Er konnte sich in die Kantine oder auf eine Parkbank oder, noch besser, in eine Kneipe setzen und ein Bier trinken.
    Er legte den Kopf in die Hände. Ausgerechnet Moose Creek … Dafydd kniff die Augen zu und versuchte, sich die Stadt vorzustellen. Aber alles, was vor seinem geistigen Auge auftauchte, war eine riesige Weite aus Eis.
    Vor allem die Erinnerung daran, warum er überhaupt dorthin gereist war, schien er verdrängen zu wollen – das Ereignis, das ihn dazu getrieben hatte, seine in all den Jahren zuvor erfolgreich aufgebaute Karriere als Chirurg abzubrechen und an jenen gottverlassenen Außenposten zu reisen, an den sich kein normaler Mensch, geschweige denn ein Arzt, auch nur im Traum freiwillig begeben würde. Aber die Wucht der Katastrophe war nie ganz von ihm gewichen. Die Erinnerung war stets da und schlich lauernd in den verborgenen Winkeln seines Bewusstseins herum. Das war einer von vielen Gründen, warum er nie über sein Jahr in der kanadischen Wildnis sprach.
    Naiverweise hatte er gehofft, Moose Creek werde ihn von seiner Schande erlösen. Er war so verzweifelt bemüht gewesen wegzukommen, dass er keinerlei Ahnung hatte, was ihm bevorstand. Sein einziges Ziel war es gewesen, so weit wie möglich fortzukommen; an den entlegensten Ort der Welt, der sich finden ließ.

KAPITEL
2
    Moose Creek, 1992
    D AFYDDS F INGER VERGRUBEN sich in den Armlehnen, seine Knöchel waren weiß. Das winzige Flugzeug schien senkrecht zu Boden zu fallen, um dann wie ein über die Oberfläche eines Teiches hüpfender Kiesel die Landepiste entlangzuholpern. Schließlich schaukelte es heftig hin und her, bevor es kurz vor dem Ende der Landebahn zum Stehen kam. Dafydd atmete langsam aus, dankte einem höheren Wesen und schüttelte seine Hände, damit sie wieder durchblutet wurden.
    Er sammelte seine Habseligkeiten zusammen und lächelte der stämmigen Stewardess zu, die ihn und drei weitere Passagiere energisch zu der herbeigerollten Treppe geleitete. Die Zeit drängte, denn die Maschine musste noch nach Resolute weiterfliegen, dem letzten Außenposten vor dem Nordpol. Als Dafydd aus dem Flugzeug stieg, schlug ihm die Hitze wie eine Wand entgegen. Die Luft war feucht und reglos. Innerhalb von Sekunden fühlte er sich klebrig. Ein stetiges dunkles Summen durchdrang die Stille, das offenbar von Insekten stammte, auch wenn keine zu sehen waren.
    Vor der in Fertigbauweise errichteten Halle des Flughafens warteten zwei Taxis. Dafydds Mitreisende schnappten sich schnell das sauberere von beiden. Das übrig gebliebene war ein heruntergekommener alter Valiant – ein Automobil, das er als Junge bewundert hatte. Die vordere Stoßstange wies eine scheußliche Beule auf. Dafydd hob die Augenbrauen, und die Frau hinter dem Steuer nickte. Er griff seine beiden Koffer und schleppte sie zum Auto.
    »Ich will verflucht sein«, meinte die Frau mit einem starken, nicht einzuordnenden Akzent, als sie Dafydd helfen wollte, die Koffer ins Auto zu laden. »So, wie Sie aussehen, werden Sie sicher eine Ewigkeit bei uns bleiben.«
    »Ja, zehn Monate«, sagte Dafydd. Er erwiderte ihr Grinsen, das ihr Doppelkinn beben ließ, und schob sich auf den Beifahrersitz, der mit Hundehaaren übersät war.
    »Was machen … arbeiten Sie für die Forstbehörde?« Die Frau sprang in den Wagen und schaute ihn unbefangen an.
    »Nein«, erwiderte er energisch, als er merkte, dass er ausgehorcht werden sollte. »Würden Sie mich bitte zum Klondike Hotel fahren?«
    »Klar.« Sie brachte den Motor auf Touren und fuhr mit Karacho von dem kiesbestreuten Parkplatz, wobei sie in der stillstehenden Luft hohe Staubwolken hinter sich ließ. »Was machen Sie denn beruflich, Mister?«, setzte sie nach und musterte seinen makellosen Anzug. »Der edle Zwirn da wird in ein oder zwei Tagen reichlich ramponiert aussehn.«
    »Was soll ich Ihrer Meinung nach denn tragen?«, fragte Dafydd gereizt und
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