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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht
Autoren: Charles Lewinsky
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einmal an, «der wollte sich umbringen. Er ging also zum nächsten U-Bahnhof und stellte sich an den Rand des Bahnsteigs, ganz am Anfang, dort wo die Züge gerade erst aus dem Tunnel kommen und deshalb noch viel Geschwindigkeit haben. Das Sterben würde dann schneller gehen, hatte er sich ausgerechnet.»
    «Wenn ich einmal fällig bin», sagte der König, «will ich das nicht vorher wissen. Einfach umfallen, und, peng, das war’s. Am besten im Bett mit einer Frau. Ein letzter Schuss, und dann ist Schluss. Hast du wenigstens ein Stück Schokolade?»
    «Ich mag keine Süßigkeiten.»
    «Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt herkomme.»
    «Wegen meiner Geschichten», sagte die Prinzessin. «Dann quatsch hier nicht rum», sagte der König, «sondern fang endlich an zu erzählen.»
    «Ganz wie du willst», sagte die Prinzessin. «Es war also einmal ein Mann, der wollte sich umbringen.»
    «Warum?», fragte der König.
    «Braucht es dazu einen Grund?»
    «Eigentlich nicht», sagte der König. «Ich weiß nur gern Bescheid.»
    «Sagen wir: Er hatte alles verloren, was ihm wichtig gewesen war. Seine Frau, sein Kind, seine Wohnung. Reicht dir das?»
    «Das reicht», sagte der König. «Jetzt kann ich ihn mir vorstellen: ein typischer Loser.»
    Die Prinzessin fuhr mit ihrer Geschichte fort. «Der Mann stand also an der Bahnsteigkante und wartete auf den nächsten Zug. Einen ersten hatte er vorbeifahren lassen, weil er glaubte, er habe im Führerstand jemanden mit langen Haaren gesehen. Einer Frau wollte er die Umstände, die so ein Selbstmord mit sich bringt, nicht antun.»
    «Ich sag’s ja: ein Loser.»
    «Die nächste Bahn näherte sich. Dem Mann fiel auf, dass der Beschluss, sich umzubringen, sein Gehör geschärft hatte. Noch vor allen anderen Wartenden konnte er das ferne Rattern der Lokomotive erkennen. Er ließ es lauter werden und noch lauter. Auf gar keinen Fall wollte er zu früh springen. Er hatte Angst, dass der Zug sonst vielleicht noch bremsen und ihn nur zum Krüppel machen würde.
    Um den richtigen Augenblick zu erwischen, konzentrierte er sich auf einen Fetzen Zeitungspapier, der genau in der Öffnung des Tunnels auf den Schienen lag. Die Luftsäule, die jeder Zug vor sich her treibt, würde ihn in die Höhe wirbeln, im letzten Moment bevor die Lokomotiveaus ihrem Loch kam. Das würde sein Signal sein. Dann würde er springen.
    Ringsumher hatten jetzt auch alle anderen den Zug gehört, fassten ihre Einkaufstüten und Aktentaschen fester und machten sich zum Sturm auf die Türen bereit. Der Mann bemerkte nichts davon, starrte nur auf den Zeitungsfetzen, und als der losflatterte wie ein lebendiges Wesen, als habe er die herannahende Bahn zu spät entdeckt und versuche jetzt verzweifelt, sich vor ihr in Sicherheit zu bringen, als das Geräusch der Lokomotive schon zu einem Brüllen angeschwollen war, da setzte er sich in Bewegung, sprang mit all seinen Kräften ...»
    «... und war tot», sagte der König. «Das wird eine verdammt kurze Geschichte. Außer es kommen Gespenster drin vor.»
    «Nein», sagte die Prinzessin. «Er war nicht tot. Eine Hand hielt ihn an der Schulter fest, so dass er zwar stolperte, aber nicht über die Kante hinaus geriet. Und dann hörte er eine Stimme, die sagte: ‹Das hätte ein böses Unglück geben können.›»
    «Ein Schutzengel», sagte der König.
    «Ein gewöhnlicher Mann, der nur ganz zufällig hinter ihm gestanden hatte.»
    «Ich hätte ihn springen lassen», sagte der König.
    «Ich weiß», sagte die Prinzessin.
    Der König sah sich im Zimmer um. «Und du hast wirklich nichts zu essen da?»
    «Ein Glas saure Gurken muss noch irgendwo sein.»
    «Ich bin doch nicht schwanger», sagte der König verächtlich.
    «Soll ich dir was besorgen?», fragte die Prinzessin.
    «Später», sagte der König. «Jetzt will ich erst die Geschichte hören. Auch wenn sie bisher ganz schön trist war.»
    «Sie hört lustig auf», sagte die Prinzessin. «Das verspreche ich dir.»
    Der König streckte sich auf dem Bett aus. «Wir werden sehen», sagte er.
    «Der Mann, der sich nicht hatte umbringen dürfen, schaute sich seinen Retter ohne Dankbarkeit an. Es war nichts Auffälliges an ihm. Ein Bürotyp in Anzug und Krawatte. Gedeckte Farben. Mittleres Kader. Nur seine Brille hatte eine auffällig bunte Fassung. Wahrscheinlich hatte seine Frau sie ausgesucht.
    ‹Geht es Ihnen gut?›, fragte der Mann.
    ‹Nein›, sagte der Gerettete. ‹Ich lebe noch.›
    ‹Das tut mir leid›, sagte
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