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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht
Autoren: Charles Lewinsky
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fremde Mann nahm ihn in den Arm, küsste und lobte ihn. ‹Papa, Papa›, sagte der Kleine.
    ‹Ist er nicht süß?›, fragte die Frau.
    Am Abend saß sie mit ihrem Gast vor dem Fernseher. Ihr Mann war früh schlafen gegangen. Er war in letzter Zeit immer sehr müde, aber der Film, den sie sich ansehen wollten, hätte ihn sowieso nicht interessiert.
    Der Besucher musste sich beim Fernsehen anstrengen. Immer wieder kniff er die Augen zusammen. Ob ihm etwas fehle, fragte die Frau. Sie solle sich seinetwegen keine Sorgen machen, antwortete der Gast, er sehe nur in letzter Zeit nicht mehr so gut, so etwas komme wohl vor, wenn man größere seelische Erschütterungen habe durchmachen müssen. ‹Da muss man doch etwas dagegen tun›, sagte die Frau. Sie stand auf und holte aus dem Büro die Brille ihres Mannes.»
    «Die mit dem bunten Rand?», fragte der König.
    «Du passt gut auf», sagte die Prinzessin. «Sie holte also die Brille, und als ihr Gast sie aufsetzte, stellte sich heraus, dass sie genau die Gläser hatte, die seine Augen brauchten. Außerdem passte das Gestell gut zu seinem Gesicht.
    Als sie sich den Film zu Ende angesehen hatten, ging die Frau leise zur Tür des Büros und schloss sie ab. Sie hatte schon immer davon geträumt, es einmal auf dem Wohnzimmerteppich zu machen, und es wäre ihrem Mann sicher unangenehm gewesen, sie dabei zu überraschen.
    Am nächsten Morgen vergaß sie, die Tür rechtzeitig wieder aufzuschließen, und so verpasste ihr Mann die richtige U-Bahn und wurde im Büro von seinem Vorgesetzten getadelt, nicht nur, weil er zu spät gekommen war, sondern auch, weil es dort nicht üblich war, in schmutzigen Jeans und einem Pullover mit Brandloch zur Arbeit zu erscheinen. Er versuchte die Scharte durch doppelten Fleiß auszuwetzen,machte aber im Lauf des Tages mehrere kostspielige Fehler. Ohne Brille konnte er die Zahlen auf seinem Bildschirm nicht richtig erkennen.»
    «Und wurde entlassen», sagte der König.
    «Diesmal hast du recht», bestätigte die Prinzessin. «Fristlos. Obwohl er den Alkohol nicht gewohnt war, betrat er auf dem Weg zur U-Bahn eine Bar. Er trank dort ein Glas nach dem anderen, bis das Lokal geschlossen wurde. Dann fuhr er nach Hause. Als er seiner Frau von seinem Unglück erzählen wollte, legte sie einen Finger an die Lippen und flüsterte: ‹Pscht! Der Kleine ist gerade erst eingeschlafen.›
    Durch die offene Tür des Kinderzimmers konnte er im Schein des Nachtlichts sehen, wie der Mann, dem er das Leben gerettet hatte, seinen Sohn in den Armen wiegte und beruhigend auf ihn einredete. ‹Kutschikutschiku›, sagte der fremde Mann.
    Der Aktenkoffer war aus Krokodilleder und wäre ihm früher oder später doch nur gestohlen worden. Sie packten ihm seine Sachen deshalb lieber in eine große Plastiktüte: Unterwäsche, eine Zahnbürste und zwei kalte Hamburger, die vom Abendessen übriggeblieben waren.
    Nachdem er gegangen war, sprachen sie nicht mehr über ihn.»
    «Sehr lustig hört die Geschichte nicht auf», sagte der König.
    «Sie ist noch nicht zu Ende», sagte die Prinzessin. «Fürs Erste mietete der Mann ein Zimmer in einer Absteige, wo ihm schon in der ersten Nacht all sein Geld gestohlen wurde. Da es dort üblich war, täglich zu bezahlen ...»
    «Natürlich», sagte der König.
    «... musste er sich für die nächste Nacht einen anderen Platz zum Schlafen suchen. Er fand ihn im Hinterhof einer Bäckerei. Das wäre eigentlich kein schlechter Ort gewesen, aber da er in diesen Dingen keine Erfahrung hatte, legte er sich direkt auf den Boden und wäre beinahe erfroren. Dabei hätte es gleich daneben einen Lüftungsschacht gegeben, durch den von der Backstube her warme Luft aufstieg. Immerhin schenkte ihm der Bäcker, der ihn am Morgen verjagte, ein paar altbackene Semmeln, so dass er erst gegen Abend richtig heftigen Hunger bekam.»
    «Dauert die Geschichte noch lang?», fragte der König. «Ich will den Pizzakurier anrufen.»
    «Sie ist gleich zu Ende», sagte die Prinzessin. «Drei Tage später beschloss der Mann, sich umzubringen. Er ging also zur nächsten U-Bahn-Station und stellte sich an den Rand des Bahnsteigs, ganz am Anfang, dort wo die Züge noch volle Geschwindigkeit haben. Er sprang auch im richtigen Augenblick los, aber unglücklicherweise hielt ihn ein fremder Mann zurück. Ein Lehrer auf dem Weg zu einem Abendkurs, wie sie später am Fernsehen sagten.»
    «Wieso am Fernsehen?»
    «Die Szene war zufällig von einer Sicherheitskamera
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