Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zehn (German Edition)

Zehn (German Edition)

Titel: Zehn (German Edition)
Autoren: Franka Potente
Vom Netzwerk:
›Die drei Spatzen, das sind wir. Und der dicke Spatz ganz rechts, das ist der Vater.‹« Sie musste lachen. Schnell drehte sie sich weg, um den Tee aufzugießen.  
    Er lachte mit. »Gab es Fächer schon … immer?«  
    Sie brachte Tee. »Ich glaube, seit dem 6. Jahrhundert. Aber zunächst kamen die Fächer aus China. Die waren noch nicht aus Papier, sondern häufig aus Fasanenfedern. Später gab es dann Hiôgi, Zypressenholzfächer für Hofdamen. Und Faltfächer wie diese dort gibt es seit dem 9. Jahrhundert.«  
    Herr Schreiber hörte aufmerksam zu. »Aber Fächer werden doch hauptsächlich im Sommer benutzt oder für Feste und Tänze, nicht wahr?«  
    »Ja, aber eigentlich symbolisiert ein Fächer Zurückhaltung.«  
    Sie hörte sich selbst reden und dachte, dass sie in den ganzen letzten Wochen nicht so viel gesprochen hatte wie heute. Und ihr eigener, unsichtbarer Fächer war heute noch unsichtbarer als sonst.  
    Herr Schreiber wartete auf weitere Ausführungen, also sprach sie weiter: »Nun, die Damen verbergen hinter dem Fächer ihr Gesicht, ihre Gefühle, zum Beispiel im Gespräch mit einem Herrn. Solche Situationen kommen heute natürlich nicht mehr so oft vor. Aber trotzdem trägt jede Frau in Japan ihren unsichtbaren Fächer.«  
    Herr Schreiber sah sie ruhig an. Dann nickte er leicht und nahm einen Schluck Tee.  
    Es war plötzlich sehr still. Frau Michi überlegte, ob sie zu viel gesagt hatte. »Und diesen schönen Fächer hier«, er zeigte auf den Spatzenfächer, »den verkaufen Sie auch, oder ist das nur ein Ausstellungsstück?«  
    Sie zögerte. Eigentlich hatte sie den Spatzenfächer nicht verkaufen wollen. Es hingen so viele Erinnerungen daran. Andererseits brauchte sie das Geld für den Laden.  
    »Der Fächer steht zum Verkauf.« Sie zögerte. »Er ist allerdings recht teuer.«  
    Der Gaijin wandte sich jetzt dem dunkelroten Päonienblüten-Sensu zu. Dieser Blattfächer zeigte eine zartrosa Päonienblüte auf dunkelrotem Grund. Die Ränder waren mit goldener Mineralfarbe verziert. »Der könnte meiner Tochter gefallen!«, sagte er begeistert. »Sie wird Zweiundzwanzig. Sie studiert Biologie, da dachte ich, die Blüte …«  
    Frau Michi nickte aufmunternd: »Sie sind sicher sehr stolz auf sie.«  
    Herr Schreiber fuhr sich durchs Haar und sah traurig aus. »Wissen Sie, seit dem Tod meiner Frau vor sechs Jahren haben wir uns zu zweit durchs Leben gekämpft. Jetzt ist Jessi seit einem Jahr auf der Universität in München, das ist in Süddeutschland. Kennen Sie München?« Frau Michi war sich nicht sicher. Von Deutschland hatte sie natürlich gehört. Es kamen viele deutsche Touristen in den Laden. Sie lächelte.  
    »Sie … sie ist ein tolles Mädchen.« Er starrte den Fächer an. »Und … ja. Ja, ich bin sehr stolz auf sie.« Er lächelte. »Haben Sie Kinder?«  
    Frau Michi schüttelte den Kopf. Einmal, vor vielen Jahren, da hätte sie ein Kind haben können. Aber sie war zu jung. Es hätte dem Vater das Herz gebrochen. Jetzt bemerkte sie, wie selten sie in den letzten Jahren daran gedacht hatte.  
    Herr Schreiber räusperte sich leise. »Verzeihen Sie, das war sehr neugierig von mir.« Er nahm ein zerknicktes Foto aus seiner Brieftasche und reichte es ihr. Die junge Frau darauf hatte eine Sonnenbrille im Haar und lachte. Im Hintergrund war ein großes Schild mit Micky Maus zu sehen. Sie hatte dasselbe Grübchen am Kinn wie ihr Vater. Er lächelte stolz. »Das Foto ist schon einige Jahre alt. Wir waren im Urlaub in Florida, in Orlando. Wir hatten uns den heißesten Tag ausgesucht, um nach Disneyworld zu fahren.« Er lachte. »Wir haben uns mit Eiswürfeln gefüllte Tücher um den Hals gebunden …« Er schien kurz in seinen Erinnerungen versunken.  
    Draußen heulte noch immer der Sturm.  
    Frau Michi goss Tee nach. Gerne würde sie sich dem Fremden anvertrauen.  
    Er schien ähnlich einsam wie sie zu sein. »Ich … ich habe nie geheiratet«, begann sie leise. »Ich habe mich um meine Eltern gekümmert und dann allein den Laden geführt. So ist die Zeit vergangen. Nun bin ich wohl zu alt.«  
    Herr Schreiber nickte. »Ja, ich kenne das Gefühl. Plötzlich entdeckt man graue Haare und fragt sich, wo all die Jahre geblieben sind. Kennen Sie Ernest Hemingway?«  
    Nein, sie kannte ihn nicht.  
    »Er war ein berühmter amerikanischer Schriftsteller und hat einmal gesagt: Die Jugend ist uns gegeben, um Dummheiten zu machen, und das Alter ist uns gegeben, diese Dummheiten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher