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Zehn (German Edition)

Zehn (German Edition)

Titel: Zehn (German Edition)
Autoren: Franka Potente
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zusammen. Ihre Hände waren zu Fäusten verkrampft, Schweiß rann ihr den Hals hinunter.  
    Dann war plötzlich alles vorbei. Als wäre nichts gewesen, fand die Boeing ihren Halt wieder, die Lichter gingen an, und es war still. Wie die Ruhe nach einem Erdbeben.  
    Sie atmete tief ein. Ihre Fäuste entspannten sich. Sie begann hemmungslos zu weinen. Irgendwann war da eine Stewardess mit aufgelöstem Haar. Sie rieb ihr sanft den Rücken. »Alles in Ordnung, Miss.«  
    Der Kapitän sprach beruhigende Worte über den Lautsprecher. Sie fühlte sich wie in einem Nebel. Kaum nahm sie Bewegungen oder Gespräche jenseits ihres Sitzes wahr.  
    Langsam beruhigte sie sich. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.  
    Naski erwachte erst bei der Landung. Es schien ihr, als wären zehn Jahre vergangen, seit sie in Los Angeles abgeflogen war. Viel zu früh erwartete Japan sie da draußen. Viel zu früh. Unendlich langsam packte sie ihre Sachen zusammen, zog die Schuhe an und holte ihr Handgepäck aus dem Fach über ihrem Sitz. Kein klarer Gedanke wollte sich fassen lassen. Hunderte von Passagieren schoben sich erschöpft an ihrem Sitz vorbei zum Ausgang.  
    Sie verließ das Flugzeug als Letzte.  
    Der Weg zum Gepäckband war viel zu kurz. Japan. Japanische Werbung, Gesprächsfetzen, schwarzes, glänzendes Haar überall.  
    Ihr Blick war leer, der Magen schmerzte. Vielleicht weil sie nichts gegessen hatte, vielleicht wegen des Luftlochs. Diesem kleinen, sekundenlangen Tod. Es war, als hätte etwas das Leben aus ihr gesaugt.  
    Am Gepäckband drängten sich die Menschen.  
    Ihr Koffer kam gleich als Dritter.  
    Bevor sie in die Ankunftshalle trat, benutzte sie die Toilette. Als sie sich beim Händewaschen im Spiegel betrachtete, kam sie sich fremd vor, fremder als je zuvor. Ein blasses, japanisches Mädchen im grauen, konservativen Kostüm.  
    Sie sah ihre Mutter sofort. Trotz Hunderter wartender Menschen blickte sie ihr in der Ankunftshalle gleich direkt in die Augen. Sogar der Vater war gekommen.  
    Man verbeugte sich tief. Die Eltern sahen alt aus. Beide trugen einen schwarzen Kimono, und ihre Trauer war nicht zu übersehen. Fast hätte sie die Mutter umarmt.  
    Stattdessen verbeugte sie sich.  
    Sie sprachen kaum auf der Fahrt in die Stadt. Tokio war grau. Nur die unzähligen Werbetafeln leuchteten bunt und aufdringlich.  
    Für einen Moment versuchte Naski sich ihre Eltern in Los Angeles vorzustellen.  
    Die Mutter mit losem Haar und Sommerkleid, den Vater in Hawaiishorts mit Badelatschen. Ihre Eltern waren nicht älter als Jim und Jamie. Vielleicht würde Jamies Wärme sie zu einem Lächeln verführen.  
    Ein seltsamer Gedanke.  
    »Wie war der Flug?« Die Mutter flüsterte fast.  
    »Gut. Ich habe viel geschlafen.«  
    Ihr Zimmer war unberührt.  
    Alles war exakt so, wie sie es vor acht Monaten verlassen hatte.  
    Sie musste sich umziehen und frisch machen.  
    Es waren viele Verwandte und Freunde da. Der Priester würde mit allen gemeinsam beten und dem Toten seinen neuen Namen für das Jenseits geben.  
    Dann würden sie ins Krematorium fahren. Der dritte Tag der Beerdigungszeremonie war angebrochen.  
    Sie würde den Großvater nicht mehr sehen. Nur sein verhülltes Gesicht, mit dem Messer auf dem Kopf.  
    Kurz hatte sie Tante und Onkel begrüßt und ihren Cousinen Hallo gesagt.  
    Dann hatte sie sich in die Stille ihres kleinen Zimmers zurückgezogen. Sie zog die Schuhe aus und setzte sich aufs Bett. Die Mutter hatte ihren Kimono herausgelegt. Für einen Moment schloss sie die Augen. Gerne hätte sie jetzt Teddys Stimme gehört. Aber es blieb keine Zeit, ihn anzurufen.  
    Ihre Mutter trat leise ins Zimmer. Sie sah fast durchsichtig aus. Ihr Haar war zurückgebunden und zu einem Knoten gesteckt.  
    Naski nickte ihr zu.  
    Die Mutter half ihr, den Kimono zu binden.  
    »Hattest du eine schöne Zeit?« Sie sah Naski nicht an.  
    »Ja. Sehr.« Sie deutete eine Verbeugung an. Sie überlegte kurz. Aber der Moment war bereits wieder vorbei. Nur ein kleines Gefühl von wehmütigem Glück blieb.  
    Sie war froh, dass ihre Mutter gefragt hatte.  
    Nach den Gebeten aßen sie Suppe und Gyôza, die die Tanten mitgebracht hatten. Dann fuhren die engsten Familienangehörigen mit ins Krematorium.  
    Während der Leichnam ihres Großvaters eingeäschert wurde, standen alle im Warteraum.  
    Man versuchte, über andere Dinge zu sprechen.  
    Naski verhielt sich still. Ihre Seele war noch nicht
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