Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zaertliche Brandung - Roman

Zaertliche Brandung - Roman

Titel: Zaertliche Brandung - Roman
Autoren: Janet Chapman
Vom Netzwerk:
braun, die Schuhe grün. Und sie waren zu groß für ihre Füße.
    »Abrams Enkel«, sagte sie.
    Es war keine Frage. Sam rang sich ein gezwungenes Lächeln ab.
    »Sein ältester Enkel, Miss Kent.«
    »Woher wissen Sie, wer ich bin?,« fragte sie mit erfreutem und erwartungsvollem Blick.
    »Ach, ich habe es erraten«, murmelte er und dirigierte sie weiter zum Sitzungsraum, wenn auch mit kürzeren Schritten.

    »Wie … die Sitzung fängt schon an? Aber ich bin nicht … ich brauche …«
    Sie sprach nicht weiter und fasste in ihr Haar – ein vergeblicher Versuch, ihre Frisur in Ordnung zu bringen. Dann straffte sie mit einem tiefen Atemzug die Schultern. Sam verkniff sich ein unwillkürliches Lächeln. Miss Kent machte den Eindruck, als müsste sie das Kolosseum im alten Rom betreten, um wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen zu werden – und genauso fühlte sie sich. Das Sitzungszimmer würde voller Löwen sein, von denen drei nach der Position des Vorstandsvorsitzenden gierten. Und Sam war einer von ihnen.
    »Wir haben mit der Sitzung schon vor einer Stunde begonnen«, sagte er, als er die Tür zum Allerheiligsten von Tidewater öffnete.
    »Ach, das tut mir aber leid«, flüsterte sie sanft errötend.
    »Die Fahrt vom Flughafen hierher war länger, als ich dachte.«
    »Hätten Sie uns Ihre Ankunftszeit bekannt gegeben, hätten wir Ihnen einen Hubschrauber schicken können. «
    »Einen Hubschrauber?«, wiederholte sie verblüfft. Es folgte ein strahlendes Lächeln.
    »Jede Wette, dass ich dann keine zwei Stunden gebraucht hätte.«
    Wieder versuchte er, sie in das Sitzungszimmer zu führen.

    »Etwa zwanzig Minuten.«
    Sie blieb stehen und spähte hinein. Alle Gespräche verstummten, alle Köpfe drehten sich nach ihr um. Miss Kent wich einen Schritt zurück.
    »Wenn man so lange gewartet hat, spielen noch mal fünf Minuten keine Rolle mehr. Wo ist die Toilette?« Wieder wollte sie ihren Ellbogen befreien.
    Sam trat wieder in den Korridor und schickte sie drei Türen weiter.
    »Fünf Minuten, Miss Kent, dann fangen wir ohne Sie an«, sagte er warnend und ließ sie endlich los.
    Sie schenkte ihm ein selbstzufriedenes Lächeln und ging auf die Tür der Toilette zu.
    »Wie Sie wollen. Aber beenden können Sie die Sitzung nicht ohne mich«, gab sie zurück und verschwand hinter der Tür.
    Sam, dessen Miene sich verfinsterte, verwünschte seinen Großvater. Der Alte hielt die Zügel des Unternehmens in der Hand, er hätte also zugegen sein sollen. Wo steckte er bloß? In Maine?
    Bram war sechs Wochen zuvor verschwunden, ohne jemandem auch nur ein Wort zu sagen. Und seither hatten sie von ihm kaum ein Lebenszeichen erhalten. Der Fünfundachtzigjährige schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Einmal wöchentlich gab es auf einem Büro-Computer eine Nachricht: Ja, er war noch am Leben, kein Grund zur Besorgnis.
    Bram war ein gerissener alter Fuchs. Er hatte sich
lange und wortreich darüber beklagt, als in seinem Unternehmen Computer installiert wurden, scheute sich aber nicht, sich diese Technik zunutze zu machen. Auch die findigsten Computer-Gurus von Tidewater hatten den Ursprung seiner Nachrichten nicht zurückverfolgen können.
    Sam konnte nur vermuten, warum sein Großvater sich wie ein Dieb in der Nacht davongemacht hatte. Es war sicher nicht leicht, als Chef eines Unternehmens zurückzutreten, das er aus dem Nichts mit Blut, Schweiß, Köpfchen und Mut aufgebaut hatte. Offenbar hasste Bram es, die Zügel aus der Hand zu geben, wenngleich er das Altwerden wahrscheinlich noch mehr hasste – eine Tatsache, die sie alle seit dem Tod von Grammy Rose vor fünf Jahren zu spüren bekommen hatten.
    Sam betrat das Sitzungszimmer, nahm am Kopf des Konferenztisches Aufstellung und wartete. Die etwa zwanzig Mitglieder des Verwaltungsrates nahmen schweigend ihre Plätze ein und warteten ebenfalls. Zehn Minuten später ging die große Tür auf, und Miss Kent trat ein, trotz ihrer offenkundigen Verschönerungsversuche noch immer hausbacken wie zuvor.
    Ihr hellbraunes, gebürstetes und mit einem Clip zusammengefasstes Haar fiel ihr in weichen welligen Locken über den Rücken. Ihr Gesicht war blank geschrubbt und glühte vor leicht sonnenbrauner Frische. Ihre Bluse steckte im Rock, doch sah sie noch immer
eher wie ein als Erwachsene verkleidetes Kind aus als eine Frau, die im Begriff stand, den Kurs eines internationalen Schifffahrtsunternehmens zu ändern.
    »Vielen Dank für Ihre große Geduld«, sagte sie an den großen Tisch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher