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Zaehne und Klauen

Zaehne und Klauen

Titel: Zaehne und Klauen
Autoren: T. C. Boyle
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Leute waren von dieser Neuheit kurzfristig belebt, wenn sie kamen und gingen und ihre Regenschirme öffneten und schlossen, als ein Typ meines Alters – oder nein, er muss an die Dreißig gewesen sein – hereinkam und sich neben mich setzte. Er trug eine Baseballkappe, eine Jeansjacke und ein T-Shirt mit der Aufschrift Der Tod ist zwingend , was ich für den Namen einer Band hielt, von der ich noch nie gehört hatte. Er hatte blondes, um die Ohren kurz geschnittenes Haar und ein Ziegenbärtchen, das aussah wie ein blasser, von einer sehr zittrigen Hand unter das Kinn gemalter Streifen. Wir begrüßten uns auf die übliche Art – Was gibt’s Neues? –, dann winkte er dem Barkeeper und bestellte ein Bier vom Fass, ein Schnapsglas mit Tomatensaft und zwei rohe Eier.
    »Rohe Eier?« wiederholte der Barkeeper, als hätte er nicht richtig verstanden.
    »Ja. Zwei rohe Eier, in der Schale.«
    Der Barkeeper – er hieß Chris oder vielleicht auch Matt – lächelte und kratzte sich am Hinterkopf. »Wir können sie glibbrig machen oder durchgebraten oder sogar pochiert, aber roh , ich weiß nicht. Ich meine, das hat noch nie jemand bestellt –«
    »Fragen Sie den Koch, okay?«
    Der Barkeeper zuckte die Achseln. »Klar«, sagte er, »kein Problem.« Er ging los in Richtung Küche und blieb plötzlich wieder stehen. »Wollen Sie Toast dazu oder Pommes oder was?«
    »Nur die Eier.«
    Alle sahen jetzt zu, jedes kleine Drama war den Eintrittspreis wert, vor allem an einem Abend wie diesem, aber der Barkeeper – Chris, er hieß definitiv Chris – ging einfach ans andere Ende der Bar und gab die Bestellung an die Kellnerin weiter, die sie auf ihrem Block notierte. Dann verschwand sie in der Küche. Einen Augenblick später wandte sich der Mann mir zu und sagte mit einer so lauten Stimme, dass alle ihn hörten: »Herrgott, die Musik ist beschissen. Sind wir hier in einer Zeitmaschine, oder was?«
    Die alten Männer – Stammgäste – schauten von ihren Drinks auf und zu ihm hin, aber sie hatten graue Haare und schlaffe Bäuche und kannten ihre Grenzen. Einer sagte etwas über das Spiel im Fernsehen, ein anderer antwortete, und ihre exklusive Unterhaltung lebte wieder auf.
    »Ja«, hörte ich mich sagen, »wirklich beschissen«, und bevor ich wusste, was ich tat, sprach ich voller Leidenschaft über meine Lieblingsbands, während der neue Typ Tomatensaft in sein Bier goss und den Schaum abnippte und die Musik trotzig weiterdröhnte und Leute mit nassen Schuhen und tropfenden Regenschirmen durch die Tür kamen und sich hinter uns drängten. Daria, eine Kellnerin, auf die ich ein Auge geworfen hatte, zu der ich allerdings mangels Mut noch nicht mehr als hallo und auf Wiedersehen gesagt hatte, servierte ihm zwei nackte braune Eier auf einem normalen großen Teller. »Ihre Eier, Sir«, sagte sie. »Wollen Sie etwas dazu? Ketchup? Tabasco?«
    »Nein«, sagte er, »nein, ist schon okay«, und alle warteten darauf, dass er die Eier über dem Bier zerschlug, aber er sah sie nicht einmal an. Er sah Daria an, hielt sie mit seinem Blick fest. »Wie heißen Sie?« fragte er grinsend.
    Sie sagte es ihm, und auch sie grinste.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er und nahm ihre Hand. »Ich bin Ludwig.«
    »Ludwig«, wiederholte sie und sprach es wie er mit einem harten V aus, obwohl er, soweit ich es beurteilen konnte – anhand seiner Kleidung und seines Akzents, reines Südkalifornien –, kein Deutscher war. Oder falls doch, dann sprach er perfektes Englisch.
    »Sind Sie Deutscher?« Daria flirtete mit ihm, und diese Erkenntnis begann mich auf die rudimentärste Art gegen ihn einzunehmen.
    »Nein«, sagte er, »ich bin aus Hermosa Beach, geboren und aufgewachsen. Es ist der Name, stimmt’s?«
    »Ich hatte letztes Jahr einen Deutschlehrer, der hieß Ludwig, deswegen.«
    »Sie gehen aufs College?«
    Sie bejahte, und das war mir neu. Sie arbeitete nebenher. Studierte Betriebswirtschaft. Sie wollte irgendwann ein eigenes Restaurant haben.
    »Es war die Idee meiner Mutter«, sagte er, als hätte er darüber nachgedacht. »Sie hörte die ›Eroica‹ in der Nacht, als ich geboren wurde.« Er zuckte die Achseln. »Seitdem verfolgt er mich wie ein Fluch.«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich finde ihn irgendwie süß. Es gibt nicht viele Ludwigs, wissen Sie?«
    »Ja, erzählen Sie mir mehr«, sagte er und trank einen Schluck Bier.
    Sie blieb da, obwohl sie anderes hätte tun können. Das Prasseln des Regens wurde lauter, übertönte
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