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Wut

Wut

Titel: Wut
Autoren: Salman Rushdie
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Staates für seine Bürger und seinen Bürgern gegenüber und über die parallele und zuweilen gegensätzliche Vorstellung des Souveräns an sich betrieben hatte - und zog nach London (Highbury Hill, in Hörweite des Arsenal Stadions). Kurz darauf stürzte er sich ins, jawohl, Fernsehgeschäft; was ihm, wie vorauszusehen war, viel neidische Verachtung eintrug, vor allem, als die BBC ihn beauftragte, eine Spätabend-Reihe über die Geschichte der Philosophie zu entwickeln, deren Protagonisten Professor Solankas bekannte Sammlung übergroßer Eierkopfpuppen waren, die er alle eigenhändig angefertigt hatte.
    Das war schlicht und einfach zuviel. Was bei einem geschätzten Kollegen als tolerierbare Exzentrizität angesehen worden wäre, wurde bei einem feigen Deserteur zur unzumutbaren Torheit, und Braingirls Abenteuer wurde noch vor der Ausstrahlung von großen und kleinen Intellos einstimmig lächerlich gemacht. Dann wurden die Folgen gesendet, und innerhalb weniger Monate stieg es zum allgemeinen Erstaunen und zum Kummer der Kritikaster vom vergnüglichen Geheimtip einer gebildeten Koterie zur Klassik-Kultserie mit einer schönen jugendlichen und schnell wachsenden Fangemeinde auf, bis ihm schließlich die Ehre zuteil wurde, auf den begehrten Platz nach den Hauptabendnachrichten verlegt zu werden. Und dort entwickelte es sich zum echten Prime-Time-Hit.
    Am King’s war bekannt, daß Malik Solanka mit Mitte Zwanzig in Amsterdam - wo er an einem links tendierenden, von Faberge finanzierten Institut über Religion und Politik sprechen sollte - das Rijksmuseum besucht hatte und in diesem Schatzkästlein von einer Ausstellung gewissenhaft im Stil der Zeit eingerichteter Puppenhäuser hingerissen war, einzigartigen Abbildern des häuslichen Lebens in Holland im Laufe der Jahrhunderte. Sie waren vorn offen, als hätten Bomben ihre Fassaden zerstört; oder glichen kleinen Theatern, die er durch seine Anwesenheit vervollständigte. Er war ihre vierte Wand. Allmählich sah er ganz Amsterdam en miniature: sein Hotel an der Herengracht, das Anne-Frank-Haus, die unglaublich schönen Surinamesinnen. Es war ein Trick des Gehirns, menschliches Leben in kleiner, reduzierter Puppenform erscheinen zu lassen. Und das Ergebnis gefiel dem jungen Solanka. Ein bißchen Bescheidenheit im Hinblick auf den Umfang menschlichen Bemühens war wünschenswert. Hatte man im Kopf den Schalter umgelegt, fiel es schwer, die Dinge auf die alte Art und Weise zu sehen. Klein war schön, wie Schumacher damals gerade zu behaupten begann.
    Tag um Tag besuchte Malik die Puppenhäuser im Rijksmuseum. Niemals zuvor im Leben hatte er daran gedacht, irgend etwas mit seinen Händen zu machen. Jetzt schwirrte sein Kopf von Meißeln und Klebstoff, Stoffstücken und Nadeln, Scheren und Kleister. Er ersann Tapeten und Polstermöbel, erträumte Bettwäsche, entwarf Badezimmerarmaturen. Nach einigen Besuchen wurde ihm jedoch klar, daß Häuser allein ihm nicht genügten. Seine imaginären Behausungen mußten Bewohner haben. Ohne Menschen hatte es keinen Sinn. Die holländischen Puppenhäuser ließen ihn trotz all ihrer Feinheit und Schönheit, und obwohl sie seine Phantasie möblieren und dekorieren konnten, ans Ende der Welt denken, an irgendeinen seltsamen Kataklysmus, durch den das Eigentum unbeschädigt blieb, während alle Lebewesen vernichtet worden waren. (Das war viele Jahre vor der Erfindung der ultimativen Rache des Leblosen am Lebenden, der Neutronenbombe.) Nachdem ihm diese Idee gekommen war, entwickelte er eine Abneigung gegen das Museum. Er begann sich Hinterzimmer des Hauses vorzustellen, die mit riesigen Haufen von Miniatur-Toten angefüllt waren: Vögeln, Tieren, Kindern, Dienstboten, Schauspielern, vornehmen Herrschaften. Eines Tages verließ er das große Museum und reiste nie wieder nach Amsterdam.
    Bei seiner Rückkehr nach Cambridge begann er umgehend eigene Mikrokosmen zu konstruieren. Seine Puppenhäuser waren von Anfang an Produkte einer idiosynkratischen persönlichen Vorstellung. Anfangs waren sie verspielt, ja märchenhaft; Science-Fiction-Gebilde, versetzt in die Welt der Zukunft, keine Nachbildungen der Vergangenheit, welche bereits von den Miniaturisten-Meistern der Niederlande auf unvergleichliche Weise eingefangen worden war. Diese Sci-Fi-Phase währte nicht lange. Schon bald lernte Solanka, wie wertvoll es ist, genau wie die großen Matadore dicht am Stier zu kämpfen; das heißt, er benutzte das Material seines eigenen Lebens und seiner
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