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Wut

Wut

Titel: Wut
Autoren: Salman Rushdie
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auffüllte -, brach Solanka in einen leidenschaftlichen Protest gegen Krysztofs absurde Vorschläge aus und flehte allen Ernstes, der Welt möchten die literarischen Ergüsse des Autors Waterford-Wajda erspart bleiben. »Bitte, bitte, keine finster-dräuenden Landsitz-Sagas: Wiedersehen mit Brideshead im Stil von Das Schloß. Die Verwandlung in Blandings. Erbarmen! Und halte dich bei Sexszenen zurück. Du bist eher wie Alex Portnoy als wie Jackie Susann, die, wie du dich erinnern wirst, gesagt hat, daß sie Mr. Roths Talent bewundere, ihm aber nicht die Hand schütteln wollte. Vor allem aber verzichte auf deine Bestseller-Klassiker. Das Cordelia-Rätsel? Elsinores Ungewißheit? Großer Gott!«
    Nach mehreren Minuten derart freundschaftlich-unfreundschaftlicher Neckerei lenkte Dubdub gutmütig ein: »Na ja, vielleicht werd’ ich statt dessen ja auch Filmregisseur. Wir wollen gerade nach Südfrankreich fahren. Dort werden Filmregisseure vermutlich gebraucht.«
    Malik Solanka hatte immer schon eine Schwäche für den skurrilen Dubdub gehabt, zum Teil, weil er derartige Dinge sagen konnte, aber auch, weil unter all den angelernten Albernheiten im Grunde ein gutes, weiches Herz versteckt war. Außerdem war er ihm etwas schuldig. Im Market-Hill-Studentenheim des King’s College hatte der achtzehnjährige Solanka an einem kalten Herbstabend des Jahres 1963 eines Retters bedurft. Er hatte den ganzen ersten Tag im College in einem wilden, übertriebenen Angstzustand verbracht, in dem er das Bett nicht verlassen konnte, weil er überall Dämonen sah. Die Zukunft glich einem weit offenen Rachen, der nur darauf wartete, ihn zu verschlingen, wie Kronos seine Kinder verschlungen hatte, und die Vergangenheit - Solankas Familienbande waren übel zerschlissen -, die Vergangenheit war ein zerbrochener Krug. Nur diese unerträgliche Gegenwart war geblieben, in der er, wie er meinte, nicht existieren konnte. Es war viel einfacher, im Bett zu bleiben und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. In diesem charakterlos modernen Zimmer mit Kiefernholzmöbeln und Stahlrahmenfenstern verbarrikadierte er sich gegen alles, was das Schicksal für ihn bereithielt. Vor der Tür ertönten Stimmen; er antwortete nicht. Schritte kamen und gingen. Um sieben Uhr abends jedoch rief eine Stimme, die anders klang als alle anderen - lauter, weicher und absolut sicher, daß eine Antwort kommen würde -, auf einmal: »Vermißt jemand da drin einen verdammt großen Koffer mit einem komischen ausländischen Namen drauf?« Und Solanka reagierte - zu seiner eigenen Überraschung. So endete der Tag des Schreckens, der unterbrochenen Regungsfähigkeit, und seine Studentenjahre begannen. Dubdubs gräßliche Stimme hatte, genau wie der Kuß eines Prinzen, den bösen Bann gebrochen.
    Solankas irdische Habe war irrtümlich an das College-Studentenheim auf dem Peas Hill geliefert worden. Krys - damals war er noch nicht Dubdub - suchte einen Karren, half Solanka, den Schrankkoffer aufzuladen und zu seiner richtigen Adresse zu fahren, dann schleppte er den unglücklichen Eigentümer auf ein Bier und ein Abendessen in die College Hall. Später saßen sie nebeneinander in diesem Saal und lauschten dem blendend geschniegelten Provost des King’s, der ihnen erzählte, daß sie aus drei Gründen in Cambridge waren: Intellekt! Intellekt! Intellekt!  Und daß sie in den vor ihnen liegenden Jahren das meiste, mehr als in jedem Studier- oder Hörsaal, in der Zeit lernen würden, die sie bei Besuchen in den Zimmern der anderen verbrachten, wo sie einander befruchten würden. Waterford-Wajdas unüberhörbares Gewieher -»HA, ha, ha, HA« - unterbrach das betroffene Schweigen, das dieser Bemerkung folgte. Für dieses respektlose Lachen liebte Solanka ihn.
    Dubdub wurde weder Romancier noch Filmregisseur. Er blieb weiter auf der Uni, errang den Doktorgrad und bekam schließlich eine Dozentenstelle angeboten, die er sich mit der dankbaren Miene eines Mannes schnappte, der die Frage nach dem Rest seines Lebens gerade endgültig gelöst hat. Mithilfe dieser Miene erspähte Solanka den Dubdub hinter der Maske des Golden Boy, den jungen Mann, der sich verzweifelt danach sehnte, der Welt der Privilegierten, in die er hineingeboren wurde, zu entkommen. Solanka versuchte, durch allerlei Erklärungen eine hohlköpfige Dame der Gesellschaft als Mutter und ein ungebildetes Rauhbein von Vater heraufzubeschwören, doch seine Phantasie versagte; die Eltern, die er persönlich kennengelernt
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