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Wut

Wut

Titel: Wut
Autoren: Salman Rushdie
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Fische durch die Luft nach unten schwammen. Komm zu mir, flüsterte sie Babur zu, ich bin deine Meuchelmörderin, die Mörderin meiner eigenen Hoffnungen. Komm her und laß mich Zusehen, wie du stirbst.
    Malik Solanka öffnete die Augen und las den handgeschriebenen Zettel. »Professor Sahib, ich kenne die Antwort auf deine Frage.« Neelas letzte Worte. »Die Erde kreist. Die Erde kreist um die Sonne.«
     

18
    Aus der Ferne war das Haar des Knaben noch golden, obwohl der Ansatz schon dunkler war. Bis zu seinem bevorstehenden vierten Geburtstag würde das blonde Haar zum größten Teil verschwunden sein. Die Sonne schien, als Asmaan mit seinem Dreirad in hohem Tempo einen abschüssigen Pfad auf der blühenden Frühlings-Heath hinabfuhr. »Guck mal!« schrie er laut. »Ich fahre richtig schnell!« Er war gewachsen, und seine Aussprache war viel deutlicher geworden, aber er war immer noch in das Strahlen der Kindheit gehüllt, in diesen glanzvollsten aller Mäntel. Seine Mutter mußte laufen, um mit ihm Schritt halten zu können, ihr langes Haar war unter einem breiten Strohhut zusammengehalten. Es war ein perfekter Apriltag auf der Höhe der Maul-und-Klauenseuche. Die Regierung lag in den Umfragen weit voraus, auch wenn sie überaus unpopulär war, und Tony Ozymandias, der Premierminister, schien von diesem Paradoxon schockiert zu sein: Was, ihr mögt uns nicht? Aber wir sind es doch, Leute, wir sind die Guten! Malik Solanka, Reisender aus einem antiken Land, beobachtete seinen Sohn von der Verborgenheit eines Eichengehölzes aus und beschwerte sich auch nicht, als ein schwarzer Labrador an ihm herumschnupperte. Nachdem dieser festgestellt hatte, daß Solanka für seine Zwecke ungeeignet war, lief er weiter. Der Hund hatte recht. Es gab kaum einen Zweck, für den sich Solanka im Moment geeignet vorkam. Nichts außer Überresten.
    Morgen Franz lief nicht mit. Er joggte nicht. Kurzsichtig strahlend, kletterte der Verleger schwerfällig den Hang zu der wartenden Frau mit dem Kind hinab. »Hast du das gesehen, Morgen? Das war doch gut gefahren, nicht wahr? Was würde Daddy sagen?« Asmaans Gewohnheit, stets mit voller Lautstärke zu sprechen, bewirkte, daß seine Worte bis zu Solankas Versteck hinaufdrangen. Franz’ Antwort war nicht zu hören, aber Malik hätte mühelos seinen Text schreiben können. » Far out, Asmaan, Mann. Echt Klasse.« Der alte Hippie-Scheiß. Zu seiner größten Freude krauste der Junge die Stirn. »Aber was würde Daddy sagen?« Solanka spürte, wie eine kleine Woge Vaterstolz in ihm aufstieg. Gut gemacht, Kleiner. Zeig du diesem buddhistischen Heuchler, wer hier wer ist.
    Auf Asmaans Heath - oder wenigstens in Kenwood - gab es magische Bäume. Eine solche Zauberzone war zum Beispiel eine riesige, umgestürzte Eiche, deren Wurzeln sich in der Luft ineinander verschlangen. In einem anderen Baum mit einem Loch am Fuß des Stammes hausten eine Menge Märchenwesen, mit denen Asmaan jedesmal, wenn er vorbeikam, rituelle Dialoge austauschte. Ein dritter Baum war die Heimat von Pooh, dem Bären. Mehr in der Nähe des Kenwood House gab es große, breitverzweigte Rhododendronbüsche, in denen Hexen wohnten und wo herabgefallene Zweige zu Zauberstäben wurden. Die Hepworth-Skulptur war' ein heiliger Ort, und die Worte  Barbara Hepworth  waren fast von Anfang an ein Teil von Asmaans Wortschatz gewesen. Solanka wußte, welche Route Eleanor einschlagen würde, und wußte auch, wie er der kleinen Gruppe folgen konnte, ohne bemerkt zu werden. Er war nicht sicher, ob er schon bereit war, sich entdecken zu lassen, war nicht sicher, ob er für sein altes Leben bereit war. Asmaan bat, auf dem nächsten Teil des Pfades getragen zu werden, weil er mit dem Dreirad nicht bergauf fahren wollte. Dies war eine alte Gewohnheit, die der Faulheit entsprungen war. Eleanor hatte einen schwachen Rücken, also hievte Morgen sich den Jungen auf die Schultern. Das war immer eine Spezialität von Solanka und Asmaan gewesen. »Kann ich auf meinen Schultern reiten, Daddy?« - »Auf deinen Schultern, Asmaan. Sag auf deinen Schultern. « - »Auf meinen Schultern.« Da vorn geht alles, was ich auf dieser Welt liebe, dachte Solanka. Ich werde ihn einfach eine Zeitlang beobachten. Von hier aus werde ich über ihn wachen.
    Wieder einmal hatte er sich aus der Welt zurückgezogen. Sogar seinen Anrufbeantworter abzuhören fiel ihm schwer. Mila hatte geheiratet, Eleanor hinterließ knappe, bekümmerte Nachrichten über Anwälte. Die
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