Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wut

Wut

Titel: Wut
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
nachdem er die blutbefleckte Klytämnestra getötet hatte, konnte ein Lied davon singen. Mit leirion oder blauer Iris konnte man die Furien zuweilen beschwichtigen, aber Orest trug keine Blumen im Haar. Sogar der Hornbogen, den ihm die Pythia, das Orakel von Delphi, zum Schutz gegen ihre Attacken gab, war keine große Hilfe. Schlangenhaarig, hundsköpfig, fledermausgeflügelt , jagten ihn die Erinnyen sein Leben lang und gönnten ihm keine Ruhe.
    Heute warfen die Göttinnen, weniger beachtet, aber gieriger, wilder, ihre Netze viel weiter aus. Je schwächer die Familienbande wurden, desto stärker mischten sich die Furien in jeden Aspekt des menschlichen Lebens ein. Von New York bis Lilliput-Blefuscu gab es vor dem Schlag ihrer Flügel kein Entrinnen.
     
    Sie kam nicht wieder. Junge Männer und Frauen kümmerten sich um Solankas tägliche Bedürfnisse. Es waren einige der müden, eingesperrten Kämpfer, die ihren eigenen Anführer Babur ebenso sehr fürchteten wie den Feind draußen vor den Mauern und ihre dunkle Aphrodite um Rat gebeten hatten; doch als sich Solanka nach Neela erkundigte, machten sie stumme Ich-weiß-nicht-Gesten und gingen davon. Auch Commander Akasz ließ sich nicht mehr blicken. Solanka, vergessen, am Rande des Geschehens gestrandet, schlief, hielt laute Selbstgespräche, driftete immer weiter in die Irrealität hinein und schwankte zwischen Tagträumen und Panikattacken. Durch das kleine, vergitterte Fenster hörte er Kampfgeräusche, die immer häufiger wurden und immer näher kamen. Rauchsäulen stiegen hoch in die Luft. Solanka dachte an Braingirl. Ich hätte sein Haus in Brand gesteckt. Ich hätte seine Stadt niedergebrannt.
    Gewalttaten werden von den meisten jener, die darin verwickelt sind, nicht erkannt. Erfahrungen bleiben bruchstückhaft; Ursache und Wirkung, warum und wie, werden auseinandergerissen. Nur die Abfolge existiert. Zuerst dies, dann das. Und später versuchen jene, die überleben, ihr Leben lang zu begreifen. Der Angriff kam an Solankas viertem Tag in Mildendo. Bei Morgengrauen wurde die Tür seiner Zelle geöffnet. Da stand derselbe wortkarge junge Mann - jetzt mit Schnellfeuerwaffen und mit zwei Messern im Gürtel -, der vor ein paar Tagen so klaglos bei ihm aufgeräumt hatte. »Bitte, kommen Sie schnell«, sagte er. Solanka folgte ihm, und dann war er wieder im Labyrinth, den trostlosen, ineinander übergehenden Räumen, wo maskierte Kämpfer den Weg bewachten und sich jeder Tür näherten, als sei sie mit einer Sprengladung versehen, um jede Ecke schlichen, als lauere unmittelbar dahinter ein Hinterhalt; und in der Ferne vernahm Solanka die unartikulierte Konversation der Schlacht, das Geplapper der automatischen Gewehre, das Grummeln der schweren Artillerie und, hoch über allem, das lederne Schlagen von Fledermausschwingen und das Kreischen der hundsköpfigen Drei. Dann war er im Lastenaufzug eingeschlossen, wurde durch die zerstörten Küchen geschoben und in einen nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichneten, fensterlosen Lieferwagen gestoßen; dann kam eine lange Zeit gar nichts. Höchstgeschwindigkeitsfahrt, beängstigende Stops, erhobene Stimmen, erneute Vorwärtsbewegung. Lärm. Woher kam dieses Kreischen? Wer starb, und wer tötete? Was ging hier vor? Da er so wenig wußte, kam er sich unbedeutend vor, sogar ein bißchen geisteskrank. In diesem schwankenden, rüttelnden Lieferwagen eingesperrt, begann Malik Solanka laut zu heulen. Aber dies war doch schließlich eine Rettungsfahrt. Irgend jemand -Neela? - hatte ihn für würdig erachtet. Der Krieg löscht das Individuum aus, er aber wurde aus dem Krieg gerettet. Die Autotür ging auf; blinzelnd spähte er ins blendende Tageslicht. Ein Offizier salutierte vor ihm - ein exotisch schnurrbärtiger Elbee in der überreich betreßten Uniform der Lilliputianer-Armee. »Professor. Freut mich, Sie wohlauf und in Sicherheit zu sehen, Sir.« Er erinnerte Solanka an Sergius, den steifrückigen Offizier in Shaws Helden. Sergius, der sich niemals entschuldigte. Dieser Bursche war eindeutig dazu abgestellt worden, Solanka zu begleiten, eine Aufgabe, die er energisch wahrnahm, indem er wie ein zu stramm aufgezogener Spielzeugsoldat vorausmarschierte. Er führte Solanka zu einem Gebäude mit dem Zeichen des Internationalen Roten Kreuzes. Später gab es etwas zu essen. Ein britisches Militärflugzeug wartete auf ihn, um ihn mit einer Gruppe anderer ausländischer Paßbesitzer nach London zurückzubringen. »Den Paß hat man mir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher