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Wunder wie diese

Wunder wie diese

Titel: Wunder wie diese
Autoren: Laura Buzo
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Überlegenheit von Street-Cred-Donna oder Deli-Georgia kommen noch jede Menge neue Aushilfen dazu. Eine davon ist die sechzehnjährige Sveta Tarasova. Allein schon ihr Name beschwört Bilder von prächtigen russischen Bond-Girls herauf, die einen, wenn man erst mal ihrem Charme erlegen ist, zwischen ihren bloßen Schenkeln zerquetschen können. Schurkinnen mit langen dunklen Haaren in hautengen schwarzen Kleidern, die Zigaretten aus einer Zigarettenspitze rauchen, Wodka Martinis trinken und mit verruchtem Blick »Da, Darlink« hauchen. Später im Penthouse – danach, wenn man ihnen bereits erlegen ist – mixen sie einem noch einen Wodka Martini und prosten dir zu: »Es lebe das Verbrechen, Darlink!« Oh Gott, vielleicht wird sie Chris mit ihren Schenkeln zerquetschen!
    Oder vielleicht übertreibe ich auch nur. Es wäre ehrlich gesagt ja nicht das erste Mal. Nur leider ist Sveta nun mal hübsch, schlank und hat lange dunkle Haare. Sie spricht zwar nicht viel, aber sie trägt auf Arbeit einen extrem kurzen schwarzen Minirock, schwarze Strumpfhosen und Mary Janes, die ihre Beine einfach umwerfend aussehen lassen. Als Chris und ich sie einmal dabei beobachten, wie sie ein paar Hauslieferungen auf einen Wagen türmt und sich dabei reckt, entdecken wir, dass sie richtige Nylonstrümpfe trägt, solche, für die man Strapse braucht. Sie gewährt uns einen großzügigen Blick darauf, während sie mit den schweren Tüten hantiert.
    »Oh. Mein. Gott«, murmelt Chris.
    Ich bin empört. Wer macht denn so etwas? Wer trägt heutzutage noch Strümpfe mit Strapsen? Es gibt jede Menge ganz normale Strumpfhosen. Warum kann sie sich nicht davon ein Paar kaufen wie alle anderen auch?
    Chris ist in Sekundenschnelle verschwunden, rüber zu Ed an der Service-Theke, um ihm von dem unerwarteten Anblick zu berichten.
    Um dem Ganzen noch eins draufzusetzen, trägt Sveta außerdem eine sittsame kleine schwarze Strickweste über ihrer weißen Bluse, wahrscheinlich als pikanten Kontrast zu den Strapsen. Schlampe.
    Es entgeht mir nicht, dass Chris sie nach der Arbeit auf einen Kaffee einlädt. Klar doch. Warum auch nicht? Ich kann eh nichts dagegen tun.
    Es gibt insgesamt recht wenig, was ich unternehmen könnte, wie mir beim Nachhausegehen bewusst wird. Wenn man wie ich eine eher altbackene Fünfzehnjährige ist, hat man eben nicht viel Einfluss, ganz gleich worauf. Chris schreibt gerade ein Essay über E. P. Thompson und erzählt mir immer wieder etwas über »Struktur vs. Wirkung«.
    Ich wohne bei meinen Eltern. Ich muss mich an ihre Regeln halten.
    Ich gehe zur Arbeit. Auch da muss ich mich an das halten, was von mir verlangt wird.
    Das Gleiche gilt für die Schule.
    Ich kriege nie einen Platz im Bus, weil ich gegen die Drängler und Schubser keine Chance habe. Mit vierzehn habe ich angefangen, ein paar Kilo zuzulegen, und ganz gleich wie viele Diäten ich auch mache oder wie viele Runden ich im Park drehe, ich krieg sie einfach nicht runter. Meine Schwester Liza bewohnt mit anderen Studenten ein Haus und erzählt mir jedes Mal, wenn wir telefonieren, von wilden Partys und ihren Freunden. Ich bewohne ein kleines Zimmer im Haus meiner Eltern. Meine Haare kringeln sich um mein Gesicht, ganz gleich wie sehr ich versuche, sie glatt zu ziehen. Chris flirtet weiterhin mit den Mädchen auf Arbeit, ganz gleich wie sehr ich mir wünsche, er würde es lassen. Es gibt nichts, was ich tun könnte, um auch nur das Geringste daran zu ändern.
    Irgendwann letzte Woche hab ich mich bei Chris lautstark über Othello ausgelassen. Wir hatten das gerade in der Schule. Er hat mir mit leicht zur Seite geneigtem Kopf zugehört und immer wieder versucht, etwas einzuwenden, aber ich habe ihn nicht zu Wort kommen lassen.
    »Warum heißt es eigentlich die Tragödie von Othello? Es sollte die Tragödie von Desdemona heißen!«
    »Na ja, auch für sie ist es eine Tragödie, aber er ist nun mal der Protag–«
    »Er bringt seine Frau um, einfach so! Also welcher Psychopath bringt einfach seine Frau um und wird dann auch noch zum Helden erklärt?«
    »Er ist ein tragischer Held, Kleine. Er hat eine verhängnisvolle Schwäche – die haben sie alle.«
    »Nicht für ihn ist das eine Tragödie, sondern für Desdemona!«
    »Aber das Drama handelt nicht von ihr, Klei–«
    »Was ist das bloß für ein Schwächling! Er wird zu diesem großen Kriegsheld erklärt, aber er ist so unsicher, dass er den ganzen Mist über seine Frau einfach glaubt. Die liebt ihn doch, die Arme. Was
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