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Wunder wie diese

Wunder wie diese

Titel: Wunder wie diese
Autoren: Laura Buzo
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sehr fragwürdige Herangehensweise für den Lehrplan des 10. Schuljahres. Sie hat beschlossen, dass wir in diesem Schuljahr als Erstes Sylvia Plaths Die Glasglocke lesen. Ich bin halb damit durch. Die Hauptfigur hat bisher schon mehrfach versucht, sich umzubringen. Außerdem macht ihr die Tatsache, dass sie noch Jungfrau ist, ziemlich zu schaffen. Sie sieht sich um und unterteilt alle, die ihr begegnen, in zwei Kategorien: die einen, die bereits Sex hatten, und die anderen, die noch keinen hatten. Damit kann ich mich ein Stück weit identifizieren. Ich habe niemanden in meinem unmittelbaren Freundeskreis, der bisher diesen Rubikon überschritten hat (zumindest nicht soviel ich weiß), aber natürlich ist es ein Thema. Noch dazu bin ich in einen Einundzwanzigjährigen verliebt. Deshalb geht mir so etwas natürlich durch den Kopf. Immer wenn das Gespräch mit Chris auf Sex zusteuert, schenkt er mir diesen äußerst verständnisvollen Blick, als ob er mich nicht schocken oder damit konfrontieren wolle. Als ob ich zu empfindlich dafür wäre. »Schock mich doch!«, würde ich am liebsten schreien. »Konfrontier mich damit! So zartbesaitet bin ich gar nicht – versuch’s doch mal!«
    Ich kann nicht behaupten, dass mich Die Glasglocke wirklich gepackt hätte, aber ich ackere mich weiter durch, schon allein, weil Chris mir deswegen vor einer Woche anerkennend zugenickt hat.
    »Sylvia Plath? Echt heftig.« Er hat mich in meiner Pause mit dem Buch im Aufenthaltsraum gesehen.
    »Ja. Ja, es ist echt heftig.«
    »Das war doch diese krasse Englischlehrerin. Stimmt’s?«
    »Ja. Ja, sie ist echt krass.«
    »Willst du einen Kaffee?« Er holte einen Stapel Styroporbecher aus dem Schrank und zog den Deckel von der gewaltigen Dose Internationale Röstung, die uns großzügigerweise für umsonst zur Verfügung gestellt wird. Igitt!
    »Ja. Danke.«
    Ich schlug das Buch zu und wartete, bis er sich hingesetzt hatte. Mit Chris eine Tasse Internationale Röstung trinken, um Viertel nach acht abends unter der Woche, auf Plastikstühlen in einem Raum ohne Fenster – der Höhepunkt des Tages. Der Höhepunkt meines gesamten bisherigen Lebens.
    Die Ränder meiner Schulhefte sind übersät mit »C«s in allen erdenklichen Farben, Schriftzügen und Variationen. Während des Unterrichts starre ich zum Fenster hinaus und frage mich, was er wohl gerade macht. Ich stelle ihn mir an der Uni vor, wie er sich Notizen macht, mit seinen Freunden in der Uni-Bar rumhängt und in dem Soziologieseminar, das er so gern mag, seinen Senf dazugibt. Und natürlich wie er sich mit den Mädchen unterhält. Erwachsenen Mädchen an der Uni, Mädchen, die nach dem Seminar mit ihm was trinken gehen können, Mädchen in seinem Alter, die er anstandslos zu Hause oder seinen Freunden vorstellen kann. Mädchen, die wissen, wie man sich kleidet und schminkt. Mädchen, die schon mal Sex hatten, Mädchen, die dieselben Texte für die Uni lesen. Mädchen, die echte Chancen bei ihm haben.
    In der Mittagspause bin ich noch stiller als sonst. Ich liege im Gras auf dem Rücken, den Kopf auf meinen Schulrucksack gebettet, umringt vom Stimmengemurmel meiner Freundinnen, und sehe in den Himmel hinauf. Penny sitzt daneben und unterhält sich mit Ally und Eleni, aber gelegentlich wedelt sie mir mit der Hand vor den Augen herum, schüttelt den Kopf und lacht amüsiert.
    »Geht’s ihr gut?«, fragt jemand.
    »Na klar«, antwortet Penny. »Sie ist einfach an einem schönen Ort.« Penny lässt ihre Hand auf meine fallen und drückt sie kurz.
    Zu meiner Rechten, auf der anderen Seite des Zauns, rauscht der Verkehr der sechsspurigen Fahrbahnen vorbei. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie Chris mir mit seinen warmen Händen die Haare aus dem Nacken streicht. Ich öffne die Augen. Meine Lippen brennen.
    Auf Arbeit erfahre ich, dass Street-Cred-Donna von ihrem Dad verdroschen und vor die Tür gesetzt wurde. Ihre Stiefmutter hat daran wohl einen großen Anteil getragen. Als Donna zwölf war, hat ihre richtige Mutter noch mal geheiratet und ist nach Amerika gezogen. An Kasse 12 vor mir bedient sie mit verquollenen Augen und zerknitterter Bluse die Kunden.
    In der Mittagspause gehe ich mit einem Müsliriegel nach draußen. An der hinteren Laderampe stehen Chris und Donna. Sie weint. Schwarze Make-up-Streifen ziehen sich über ihr Gesicht, ihre Schultern beben und sie hält eine Zigarette in den nikotingelben Fingern. Chris streicht ihr tröstend über den Rücken. Als er mich über
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