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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche
Autoren: Judith Kuckart
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sieht Jo die Silhouette eines Mannes, der ziemlich jung sein muss. Hinter der Kreuzung führt die Straße an einem Stück Rasen mit kaputten Sitzbänken vorbei, einem Ort, der einmal öffentliche Gartenanlage sein sollte. Eine Straßenlaterne in der Mitte streut schmutziges Licht wie Dunkelheit über den Fleck festgetretener Erde. Ein Schwarzer erhebt sich langsam von einer Bank und kommt auf sie zu. Ein flatteriger Schatten, hoch wie eine Tür, die ohne Haus herumläuft. An den Füßen trägt er Pantoffeln und auf dem linken Ohr einen Verband. Er geht auf Kennedy zu, so als sei auf dieser Erde grundsätzlich zu wenig Platz für sie beide. Don’t, don’t grab me, blood, sagt er mit einer Stimme, die zu den schmalen Fluchten von gleichförmigen toten Fenstern und Türen des Wohnblocks hinter ihnen passt. Er fährt die Faust aus. Kennedy antwortet mit einem Ausweichen, das einem verzögerten Angriff ähnelt. Kurz hält er sich dabei mit beiden Händen am Saum seiner Jacke fest. Wie lässig er angezogen ist. Dieser Kennedy weiß einfach, was man in einer Welt wie dieser hier trägt. Sicher trainiert er auch eine Mannschaft von kleinen schwarzen Jungen im Fußball, hat Jo gedacht, und stellte sich vor, wie Kennedy breitbeinig auf einem der vielen kleinen Trainingsfelder steht, die am Abend unter dem Flutlicht wie Aquarien aussehen. Im Eifer des Gefechts klingt Kennedys Stimme plötzlich wie die eines Schwarzen: Hey, wenn du ein Held sein willst, musst du dich benehmen können! Der Satz stammt von Jamie, aber passt auch zu Kennedy.
    Der Schwarze ist weitergegangen, und Kennedy läuft weiter neben ihm her, als sei nichts geschehen.
    Hia, hia, ruft Karatsch, hia, hia.
    Darf ich was fragen?, fragt Jo.
    Ja.
    Hat es dir nichts ausgemacht, in Kabul auf Leute zu schießen?
    Nein. Ich habe ja auch nicht immer getroffen.
    Und dann?
    Dann habe ich doch keine Analyse angefangen, sagt Kennedy.
    Hia, hia, ruft Karatsch in ihrem Rücken wieder, hia, hia, ist euch klar, was das heißt? Das ist der Ruf, mit dem man Elefanten antreibt, Leute.
    Wissen auch nicht viele, sagt Kennedy und grinst Jo an.
    Darf ich noch was fragen?, fragt Jo.
    Mach, sagt Kennedy, aber geht bereits schneller.
    Ist Mutter weg, weil du Vater geworden bist?
    8.
    Karatschs dunkler Kamin gähnt sie an. Vera gähnt zurück.
    Kurz nur ist sie vorhin oben im gemeinsamen Schlafzimmer gewesen. Nicht einmal die Tasche hat sie dort abgestellt. Es hat nach dem Schlaf und Schweiß vergangener Nächte gerochen, nach all dem Schlaf und Schweiß all der vergangenen Jahre. Ich leg mich im Wohnzimmer hin, hat sie zu Hannes gesagt.
    Und ich muss mal wieder da runter, hat er geantwortet und auf die Treppe zum Souterrain gezeigt. Sie hat sich über Eck auf die Sitzgarnitur gegenüber dem Kamin gelegt. Direkt über den Delfter Kacheln wird Silvester wieder der alte Film laufen. Same procedure as every year, wird Karatsch in seinem hölzernen Englisch sagen, mit dem er sich jetzt durch London schlägt. Die alten Freunde werden kommen, alle um ein Jahr älter geworden. Wie war es denn in London, ist es da nicht sehr teuer?, werden sie sagen, und Veras Antwort nicht wirklich abwarten. Die Mettbrötchen werden wie in jedem Jahr interessanter sein.
    Nur Lilo Schrei wird ihr zuhören.
    Unser Kummerkasten, hat Karatsch sie genannt.
    Und Friedrich?
    Der war ja mal verliebt in dich, wie ein Hamster, hat Karatsch am vorletzten Silvester gesagt. Schau dir doch nur den alten Film an, wie ihr da die Böschung herunterrollt.
    Vera gähnt, manchmal hatte sogar Karatsch recht. Diese Szene ist die einzige, die sie sich in all den Jahren immer wieder voller Spannung angeschaut hat, als hätte sie sie noch nie gesehen. Sie liegt auf Friedrich. Er schaut zu ihr hoch. Weißt du jetzt auch, wie das ist, zwischen einem Mann und einer Frau, hat sein Blick damals gefragt, obwohl sie Kinder waren. Noch unter ihr liegend, ist er tiefer und tiefer gefallen und zugleich näher und näher gekommen. So intim wie mit diesem Jungen ist sie später mit keinem Mann mehr gewesen.
    Vera schlägt die grüne Wolldecke zurück, mit der sie im Herbst manchmal noch als Einzige auf der Terrasse sitzt, wenn es bereits kühl wird. Hannes muss die Decke über sie gelegt haben, als sie früh am Abend auf Karatschs Sitzgarnitur eingeschlafen ist. Ja, das ist Hannes, hat Meret am Mittag auf der Straße gesagt. Er arbeitet in eurer Jazzagentur und schneidet unten bei euch im Keller sein Filmmaterial. Deswegen hast du doch den
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