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Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)

Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)

Titel: Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
Autoren: Paul Beldt
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konsequent von der eigenen Zukunft verabschiedet. Ich meine dagegen: wann, wenn nicht jetzt? Es ist doch ein Trugschluss anzunehmen, dass das Leben abläuft wie ein Film: Anfang – Höhepunkt – Auflösung – Schluss. Bei jedem fängt es irgendwann an und hört irgendwann auf. Was dazwischenliegt, bezeichnet man gemeinhin als Leben. Doch dass es überhaupt mit einem angefangen hat, ist bereits der nicht mehr zu steigernde Höhepunkt. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass aus Trilliarden von Molekülen ein Mensch entsteht, der in der Lage ist, Schnitzel zu essen und Weihnachtslieder zu singen, darf als äußerst gering eingestuft werden. Leider genügt es den meisten Menschen nicht, Schnitzel zu essen und Weihnachtslieder zu singen. Es muss doch noch etwas anderes geben, sagen sie sich empört, und setzen sich künstlich Ziele, die sie erreichen wollen.
    Ich aber habe begriffen, dass das Warten sich nicht lohnt. Dass es nicht darauf ankommt, aus seinem Leben etwas zu machen, sondern das Leben einfach machen zu lassen, weil niemand besser über mich Bescheid weiß als das Leben selbst.
    Jeden Morgen höre ich deshalb als Erstes in mich hinein, ob ich mir irgendetwas zu sagen habe. Wenn ich nichts höre, ist alles gut, und ich beginne aus meinem Zelt zu robben. Meist mit den Füßen zuerst. Inzwischen robbe ich mit der Gewandtheit eines Walrosses. Ellenbogen anwinkeln, Füße mit den Spitzen senkrecht auf den Boden stellen und dann wie eine Raupe langsam rückwärtsbewegen. Bei schönem Wetter oder wenn mich die Lust überkommt robbe ich noch ein wenig durch den Vorgarten und verteile Autogramme an meine Fans. Herr Wündisch, der Vorsitzende des Fanclubs, erkundigt sich mitunter höflich nach dem Sinn der Robberei. Ob ich damit irgendetwas ausdrücken wolle, eine heimliche Kritik an der Ausbeutung der Natur oder an der Integrationspolitik der Regierung. Herr Wündisch hat manchmal seltsame Ideen. Ich bin zwar gegen die Ausbeutung der Natur und hege auch keine großen Sympathien für die Integrationspolitik der Regierung, lehne es aber scharf ab, unter einem bestimmten Motto zu robben. Ich robbe einfach, weil es mir Spaß macht. Doch Herr Wündisch will nicht begreifen, dass ich ohne jeden Hintergedanken durch den Vorgarten robbe. »Mir können Sie es doch sagen«, flüstert er mir verschwörerisch zu, während ich mit dem Mund das Unkraut aus dem Gemüsebeet ziehe. Anscheinend denkt er, dass ich zu bescheiden bin, um die wahren Hintergründe meiner ebenso zahlreichen wie sinnfreien Aktionen zu offenbaren. Wenn ich dann später auf der Internetseite lese, dass »Bernd für den Erhalt des Regenwaldes robbt«, werde ich sehr ärgerlich, unternehme aber nichts dagegen, weil es vergeudete Zeit ist, Herrn Wündisch von der absoluten Nutzlosigkeit meines Tuns zu überzeugen. Der Deutsche sieht überall ein Geheimnis, wo etwas auf den ersten Blick nicht vernünftig erscheint.
    Solch überflüssige Einträge von Herrn Wündisch haben leider immer wieder Nachahmer zur Folge. Vor kurzem las ich auf der Besucherseite, dass ein Fan aus Protest gegen die Leitung seiner Firma beschlossen hat, ganztägig durchs Büro zu robben. Bedauerlicherweise hat man ihn daraufhin fristlos entlassen. Die Angestellte einer Bäckerei protestiert gegen ihre Überstunden, indem sie die Kundschaft im Liegen bedient. Ich begreife nicht, wie man mich derart missverstehen kann. Immer öfter tauchen diverse Gruppierungen und Interessenvertreter vor dem Zaun auf und bitten mich, etwas für ihre Belange zu tun. »Ihre Wirkung geht weit über den lokalen Rahmen hinaus«, behaupten sie und schieben mir Zettel durch den Zaun, die ich unterschreiben soll. Natürlich unterschreibe ich nichts. Ich unterschreibe schon lange überhaupt nichts mehr, da ich keinerlei Verpflichtungen eingehen will. »Mit Ihrer Unterschrift stimmen Sie unseren Geschäftsbedingungen zu.« Zuvor hätte ich fünf eng bedruckte Seiten Geschäftsbedingungen lesen müssen. Ich weigere mich aber, etwas zu lesen, was mich nicht im Geringsten interessiert. Mein Leben ist zu kurz für Geschäftsbedingungen. Lange habe ich den Worten meiner Eltern geglaubt, dass man auch Dinge tun muss, die einem keine Freude bereiten. Mein Vater hat dreiundvierzig Jahre gearbeitet, ohne dabei Freude zu empfinden. Danach bedankte sich der Personalchef auf der Herrentoilette für seine langjährige Firmentreue. Mein Vater hat sich von dieser schnöden Verabschiedung nie wieder richtig erholt.
    Oft sitze ich auf
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