Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolkentaenzerin

Wolkentaenzerin

Titel: Wolkentaenzerin
Autoren: Nichole Bernier
Vom Netzwerk:
aufwachte, würde sie ihm sagen, dass sie ihn liebte. Man konnte keinen einzigen Tag und keine einzige Nacht als selbstverständlich hinnehmen. Jederzeit konnte etwas passieren, das die ganze Welt einstürzen ließ. Deshalb war es gut, so zu leben, dass man nichts bereute. Kate hoffte, dass Chris aufwachte, damit sie ihm zumindest sagen konnte: Ich liebe dich. Das würde bis morgen ausreichen.
    Doch Chris war nicht im Schlafzimmer. Die Steppdecke war noch glattgestrichen, und die Dekokissen lagen darauf. Kate ging wieder nach unten, war erst verwundert und dann besorgt. Im Arbeitszimmer war es dunkel, aber Kate sah trotzdem in dem kleinen Zimmer nach, ob er dort im Sitzen in seinem Ledersessel schlief, so unheimlich wie ein Fremder im Dunkeln seiner Gedanken. Aber der Raum war ebenfalls leer.
    Der Flur zur Küche neben der Garage war vollgestellt mit Koffern und Bettwäsche, die Chris ausgeladen hatte. Daneben stand die Kiste mit Lebensmitteln und Notvorräten, die Kate in der Reserveradmulde aufbewahrt hatte. Es war gut, dass er sie ausgeladen hatte. Es musste alles raus.
    Die schwere Hintertür am Ende des Flurs stand offen. Kate stand vor der Fliegengittertür und sah in den Garten, über die Steinplatten der Terrasse und den Grill hinweg, den sie zu selten benutzten, am Fußballtor und Schuppen vorbei. Hinten im Garten neben dem großen Lebensbaum glühte ein orangener Funke auf. Er hob und senkte sich wie ein altersschwaches Glühwürmchen.
    Kate ging hinaus. Chris saß unten im Garten auf der Steinbank. Er war nach vorn gebeugt, Ellenbogen und Unterarme auf den Oberschenkeln, eine Zigarette zwischen den Fingern. Er beobachtete, wie sie näher kam, bewegte sich aber nicht. Es war, als hätte er seit Jahren reglos hier gesessen und darauf gewartet, dass sie zurückkehrte und ihn entdeckte.
    Kate schob die Hände in die Hosentaschen. Glühwürmchen glimmten über den Lorbeerbüschen neben dem Haus, und die Geräusche der Nacht nahmen den Platz ein, den sonst eine gewaltige Stille besetzt hätte. Ein nachtaktives Tier scharrte unter den immergrünen Büschen. Das mechanische Rattern einer Automatiktür in der Nachbarschaft war zu hören, gefolgt vom kratzenden Geräusch einer Tonne auf Asphalt. Sie sahen sich lange an, und es war nichts Unangenehmes in dem Blick, nichts Streitlustiges oder Verteidigendes. Es war ein Blick, der nichts verbarg: das Warten und die Sorge, die schwindende Kommunikation und die Heimlichtuerei, der Drang, alles immer verharmlosen oder gar unter den Teppich kehren zu wollen. Das starke Bedürfnis und die Sehnsucht nach Sicherheit – Schutz vor Katastrophen und Missverständnissen, was es bekanntlich alles niemals geben kann. Der langsame Prozess, an dessen Ende die Entfremdung steht. Sie waren zwei Menschen, die sich allmählich voneinander fortbewegten, deren Wege sich irgendwann geteilt hatten. Jeder war abgebogen, hatte seine Strecke spannend gefunden und sich unterwegs etwas zu sehr daran gewöhnt, sie allein zu gehen.
    Kate wünschte, sie könnte ihm ein Tagebuch überreichen, eine Anleitung zu der Person, zu der sie im letzten Jahr geworden war, die alles erklären würde. Sie würde es gern neben ihn legen und gehen. Am nächsten Morgen hätte er sein Buch auf ihren Nachttisch gelegt, und wenn sie sich wiedertrafen, wäre alles geklärt. Keine Angst vor einem falschen Wort, vor einem Stirnrunzeln oder einer Unterbrechung im falschen Augenblick, vor der Sorge, das gerade wiedergewonnene Vertrauen wieder zu verlieren.
    Verstanden werden zu wollen war eine anstrengende Angelegenheit. Für alle Beteiligten. Kate hatte einmal ein Zitat gelesen – war es in der Highschool? Oder ein Songtext? –, das ihr im Gedächtnis haftengeblieben war: Wenn du alles über einen Mann wüsstest, könntest du ihm alles vergeben . Das klang natürlich zunächst etwas trivial, aber erst einmal musste man in Erfahrung bringen, was einen Menschen überhaupt ausmachte. Und das war das Anstrengende bei der ganzen Sache, nicht das Vergeben. Das funktionierte offenbar von allein.
    Kate seufzte und setzte sich langsam auf die Bank wie eine alte Frau, die ihren müden Gelenken Tribut zollt. Sie saß so dicht neben Chris, dass ihre Beine sich in der kühlen Nachtluft berührten, ein warmes, vertrautes Gefühl, wie ein endloses Gespräch. Sie saßen da mit Blick auf ihr Haus und berührten sich gelegentlich, aber nicht zufällig; wie ein frischverheiratetes Paar, das die körperliche Nähe genoss und die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher