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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler
Autoren: Anett Leunig
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verhallte im Raum, während wir beide unseren letzten Schluck austranken. Was für ein Abgang!
     
    Mama und Christoph waren noch immer in der Küche, als ich zurückkam, um die Gläser in den Geschirrspüler zu stellen. Mama saß am Küchentisch und las in einer Zeitschrift. Christoph stand mit dem Rücken zu mir am Fenster und starrte in die nächtliche Dunkelheit. Er schien so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er mich nicht kommen hörte. Meine Mutter dagegen blickte sofort auf, nervös, fragend, ein bisschen ängstlich, aber irgendwie auch zu allem entschlossen. Ich legte rasch den Finger auf den Mund und gab ihr dann mit dem Daumen das Okay-Zeichen. Sie lächelte und entspannte sich sichtlich.
    „Hi“, sagte ich ganz neutral.
    Christoph fuhr sofort herum. In seinen Augen lag derselbe Ausdruck wie zuvor in denen meiner Mutter. Er suchte in meinem Gesicht nach einem Hinweis auf den Ausgang des Gesprächs, aber ich ließ mir nichts anmerken. Noch nicht! Manchmal war es ganz gut, den anderen ein bisschen auf die Folter zu spannen, das gab der Beziehung eine gewisse prickelnde Würze. Er hielt es nicht mehr aus: „Wie ist es gelaufen?“
    Ich zuckte mit den Schultern: „Sieht so aus, als müsstest du auch diese Nacht im Gästezimmer verbringen.“
    Er wurde blass, seine Augen trotz des Dämmerlichts im Raum ganz hell wie heute Mittag. Dann spürte ich die Wut in ihm hochkochen. Jetzt aber schnell, bevor er überlief! Ich ließ den Schalk in meinen Augen aufblitzen und fügte hinzu: „Tut mir leid, aber ich fürchte halt, dass du mich mit Bierfahne nicht sonderlich erotisch finden wirst.“ Damit hielt ich die beiden Gläser und die leere Flasche hoch und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
    Sein Gesicht nahm langsam wieder normale Farbe an. „Also ist alles in Ordnung?“
    Ich nickte bestätigend und stellte die Gläser in den Geschirrspüler. Als ich mich wieder umdrehte, stand er direkt hinter mir und zog mich in seine Arme: „Ich werde keine einzige Nacht mehr allein verbringen, solange du in meiner Nähe bist, egal, wonach du riechst oder schmeckst.“ Ich ließ mich von seinem Blick auffangen und liebkosen. Das tat so unheimlich gut, ließ mich aufleben und gleichzeitig wieder ruhig werden nach all der Aufregung von eben.
     Nach einer Weile raschelte meine Mutter diskret mit der Zeitschrift, und wir lösten uns wieder von einander. „Na, dann kann ich ja ins Bett gehen“, meinte sie zufrieden, faltete die Zeitung zusammen und kam zu uns herüber. „Schön, mein Kleiner, ich bin wirklich froh“, sagte sie leise, wuselte mir mit einer Hand durchs Haar – und dann auch Christoph: „Gute Nacht, Großer.“ Wir waren zwar beide gleichgroß, aber irgendwie musste sie ja jetzt ihre beiden Söhne auseinanderhalten.
    Sobald sie im Flur verschwunden war, nahm Christoph meine Hand und flüsterte mir ins Ohr: „Und wir gehen jetzt auch ins Bett, und zwar mit dem Segen deiner Eltern, wohlgemerkt!“
    Ich gluckste.
    Als wir aus dem Bad in mein Zimmer kamen, hatte meine Mutter schon Christophs Bettzeug aus dem Gästezimmer geholt und auf mein Bett gelegt. Sie dachte eben immer praktisch. Wir kuschelten uns ein. Es tat gut, seinen starken Körper an meinem zu spüren, seine Wärme und die Lebendigkeit darin. Endlich begann er, mich sanft zu streicheln. Ich hielt eine Weile still, aber dann legte ich seufzend eine Hand über seine Finger und hielt sie fest. Es ging nicht mehr, heute nicht mehr. Ich war fertig mit der Welt. Verstand er das?
    In der Dunkelheit spürte ich ihn zärtlich lächeln: „Ich weiß, du bist zu müde für mich. Keine Sorge, Süßer, ich falle nicht noch einmal über dich her. Aber wenn du willst, löse ich jetzt meine Schulden von heute Nachmittag bei dir ein, du weißt schon, den Gutschein für die Erfüllung ohne Höhepunkt. Entspann dich einfach.“
    Ich ließ mich in seine Arme fallen wie in ein riesiges Kissen aus kräftigen Massagen, sanften Liebkosungen, verführerischem Streicheln und verheißungsvollen Küssen.
    Dann tat Christoph etwas, was für uns beide neu war: er schaltete mein Kopfkino ein. Während seine Fingerspitzen über meine Haut glitten, mit den Härchen darauf spielten und eigentlich überall gleichzeitig waren, begann er, mir eine Geschichte zu erzählen: von zwei Jungen, die sich nicht kannten und weit voneinander entfernt nach etwas suchten und nicht wussten, dass das sie beide selbst waren; die sich fanden und irgendwie irgendwohin gelangten, wovon sie sich
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