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Wofür du stirbst

Wofür du stirbst

Titel: Wofür du stirbst
Autoren: Elizabeth Haynes
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auf, sah durch die Windschutzscheibe und war entschlossen herauszufinden, wo ich war, selbst auf die Gefahr hin, dass er sich darüber wundern würde. Glaubte er wirklich, dass ich mich noch unter seinem Einfluss befand, hypnotisiert oder sonst wie? Versuchte er mich noch einmal zu hypnotisieren? Oder wartete er damit, bis er sich voll auf mich konzentrieren konnte? Er wollte alles mit mir durchsprechen. Das war sein Plan – er würde es also wieder tun. Der Gedanke machte mir Angst, und einen Moment lang dachte ich, ich hätte einen großen Fehler gemacht. So mutig war ich nicht. Ich nicht.
    Sam folgte uns nicht. Das konnte ich zwar nicht mit Gewissheit sagen, aber ich fühlte hinter mir eine gewisse Leere und einen kalten Wind. Die Straße war schmal, die hohen Büsche zu beiden Seiten blendeten das geringe Tageslicht aus, das durch die Wolken drang. Colin hätte ihn bemerkt, wenn er uns gefolgt wäre. Er hätte etwas gesagt.
    Wir erreichten eine Kreuzung, und Colin bog erneut nach links ab. Die Straße öffnete sich, und zum ersten Mal, seit wir die Stadt verlassen hatten, fuhren wieder Autos in entgegengesetzter Richtung an uns vorbei: ein brauner Umzugswagen, ein Kleinlaster von irgendeinem örtlichen Baumarkt. Vor mir sah ich Häuser und überlegte, ob wir in Baysbury waren, doch noch bevor wir sie erreichten, hörte ich das Ticken des Blinkers, und wir bogen nach rechts auf eine schmale Landstraße ab. Und diesmal sah ich ein umgestoßenes Straßenschild, das halb verdeckt im Unterholz lang, als sei jemand zu schnell um die Kurve gefahren und habe es dabei umgeworfen: Grayswood Lane.
    Ich triumphierte innerlich, aber nur kurz. Ich hatte recht gehabt. Und das Protokoll, das ich Frosty geschickt hatte, würde sie darauf hinweisen, wo ich war.
    Der Wagen fuhr langsamer, bog in eine Einfahrt. Ich hörte die Reifen auf dem Kies, kurz darauf hielten wir an. Schließlich sah ich auf. Vor mir lag ein großes, altes Haus mit einem Säuleneingang aus Kalkstein. Ich blieb sitzen, bis er mir die Tür öffnete, und als wir ausstiegen, sah ich alles in voller Größe. Den einst herrlichen Vorgarten, der nun völlig überwuchert war. Die Kieseinfahrt, aus der überall Unkraut spross, wand sich elegant um einen trockenen Steinbrunnen, dessen Becken mit vertrockneten Algen übersät war und an dem Flechten emporwuchsen. Der Rasen, der die Einfahrt säumte, stand hüfthoch, dahinter wuchs eine Eibenhecke, die das Haus vor Blicken schützen sollte und früher sauber gestutzt worden war, nun wild und ungezähmt vor sich hin.
    »Komm«, sagte er ungeduldig.
    »Ist das dein Haus?«, fragte ich und folgte ihm die Treppe zum Eingang hinauf.
    Er blieb stehen und fischte einen einzelnen Schlüssel aus der Tasche. »Ja.«
    Er öffnete die Tür, und sogleich schlug mir der Gestank entgegen. Verfaultes Essen, ungelüftete Räume, verstaubte Stoffe, Schimmel. Doch darüber lag ganz deutlich noch ein weiterer Geruch, den ich aus Shelleys Haus kannte. Hier war jemand gestorben.
    Ich schlug meine Hand über Mund und Nase. Vielleicht hätte ich gleichgültig bleiben sollen, aber das konnte ich nicht. Ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte.
    »Tut mir leid. Ich hatte den Geruch – ganz vergessen«, sagte er. »Komm rein, oben ist es nicht so schlimm.«
    Der Flur war dunkel und still, der dunkelrote Teppichboden, der sich die Holztreppe emporwand, war verstaubt. Neben der Eingangstür lagen ein Stapel Zeitungen, Broschüren von Essenslieferanten und ungeöffnete Post. Ich blickte darauf, versuchte, einen Namen zu erkennen, doch Colin wartete bereits am Fuße der Treppe auf mich.
    »Annabel, komm mit.«
    Ich folgte ihm und betrachtete seinen Rücken, als er die Treppe hinaufging. Die Angst, die sich durch mein anfängliches Gefühl des Triumphs – ich hatte recht gehabt – etwas gelegt hatte, stieg nun wieder in mir auf.
    Als wir uns das letzte Mal begegnet waren, war ich in einem furchtbaren Zustand gewesen. Schlafmangel, Trauer, der Schock, so plötzlich meine Mutter zu verlieren – und da war er aufgetaucht. Was genau er zu mir gesagt oder was er getan hatte, wusste ich nicht mehr. Ich konnte mich nur noch an sein Aussehen erinnern. Er war ein durchschnittlich wirkender Mann, nicht alt, nicht unattraktiv, mit rasiertem Schädel, um die beginnende Glatze zu vertuschen. Er hatte grüne Augen, die ernst, aber nicht bedrohlich wirkten, und war unauffällig gekleidet. Ich hätte unzählige Male auf der Straße an ihm vorbeigehen können,
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