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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition)
Autoren: Mira Magén
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Diagnose feststand, versuchte er, die Verbindung zu uns zu kappen, damit wir nicht unter Druck gerieten unddamit es uns nicht wehtat, er dachte, es sei besser für uns, wütend zu sein, Zorn und Wut seien leichter auszuhalten als Schmerz. Vom ersten Moment an war ihm klar, dass er nicht in einem Pflegeheim enden wollte. Er wollte kein sabbernder Zombie werden, der ins Bett pinkelt. Er gehörte also zu den zwei Prozent, die es sehr früh bekamen, zuerst hatte er das Gefühl verloren, vollkommen, er war gleichgültig wie ein Tisch, wie die Wand, wie ein Stuhl. Nichts berührte ihn mehr, nichts machte ihn traurig, nichts machte ihn froh. Er wollte nur noch eines, die Sache beenden, bevor in seinem Kopf komplette Dunkelheit herrschte, sein Kopf war wie ausgehöhlt, er hatte nicht vor, zu einem Sack mit Gliedmaßen zu werden, der nur noch ausscheidet und schwitzt, er wollte nicht gewindelt werden, nicht angebunden, nicht gefüttert, er wollte nicht an Schläuche angeschlossen werden, auch nicht an- und ausgezogen. Er machte einen Selbstmordversuch, schluckte Tabletten, aber er wurde gerettet. Außerdem aß er nichts, und möglicherweise würde diese Appetitlosigkeit zu seinem Ende führen. Ich gehöre jedenfalls zu den zwei Prozent … Habe ich das schon gesagt? Auch unter diesen zwei Prozent, hatten die Ärzte gesagt, sei sein Alter außergewöhnlich, nur in der Fachliteratur  … Es gab keinen Arzt, zu dem er nicht gegangen war, und alle hatten gesagt, bei jungen Menschen würde der Prozess wie Feuer fortschreiten, das hatte er auch im Internet gelesen, als er den Computer noch bedienen konnte. Wenn du in meinem Wohnwagen warst, ist dir doch bestimmt aufgefallen, dass es kein einziges Buch gibt. Er konnte keine Buchstaben mehr zu Wörtern verbinden, keine Wörter mit irgendeiner Bedeutung, er hatte jedes Interesse an Geschriebenem verloren. Er wollte die normalen Zellen, die ihm noch geblieben waren, nicht mitsolchen Versuchen beschäftigen, er brauchte sie noch für den letzten Akt, um sich der armseligen Geschichte, die ihn erwartete, zu entziehen. »Ich wollte dir noch etwas sagen, aber ich habe vergessen, was es war, vielleicht erinnere ich mich ja noch daran. Ich gehe für immer, Amia, steh mir nicht im Weg und frage nicht, wie. Ich gehöre zu den zwei Prozent, habe ich das schon gesagt? In der Bibel steht, einen Moment, in der Bibel? Ja, in der Bibel, da steht, und stirb auf dem Berg, wenn du hinaufgekommen bist, das kann man verstehen, wie man will. Siehst du, ich erinnere mich nicht mehr an mein Geburtsdatum, ich weiß weder den Monat noch das Jahr, ich habe den Namen meiner Mutter vergessen, aber an diese Worte erinnere ich mich, falls ich sie nicht durcheinandergebracht oder überhaupt erfunden habe, ich bin mir bei nichts mehr sicher, viele Sätze füllen mir den Kopf, sie kriechen aus jedem Loch in meinem Gehirn wie Ameisen, die vor etwas fliehen. Auch Zeilen von Gedichten, Lache, oh, lache über meine Träume, Jerusalem aus Gold und Kupfer … Ich gehöre zu den zwei Prozent, die bekommen es …«
    Er sprach schnell und flüssig, als stünde die Krankheit mit einer Stoppuhr vor ihm und habe den Finger schon am Ausschaltknopf. Er schwitzte und sprach mit einer Raserei, als ginge es um jetzt oder nie, eine Rede, die er vorbereitet hatte, die er vermutlich seit Monaten geplant hatte, er sprach wie ein Automat, in den man eine Münze gesteckt hatte, und er war blass vor Anstrengung. Der Himmel über seinem kahl geschorenen Kopf wurde grau, hielt inne, nahm Rücksicht, die dickbäuchigen Wolken hielten sich zurück und ließen ihm Zeit, Wörter aus den Trümmern zu holen.
    »Ach, es fällt mir ein, hör zu, bevor ich es wieder vergesse, wir müssen uns scheiden lassen, damit du nicht … damitdu juristisch nicht als verlassene Frau giltst, heute oder morgen, dringend, wir machen das blitzschnell, mach nicht so ein Gesicht, eine Stunde, und wir sind draußen. Der Junge, das Haus, alles gehört dir. Man unterschreibt und geht. Wir müssen es schnell fertig kriegen, damit du nicht mit einer atmenden Mumie verheiratet bleibst, die nur noch Ausscheidungen hat, achtzig Kilo Knochen und Fleisch und sonst nichts … zwei Prozent bekommen es im Alter von … Was zitterst du so, es ist einfacher, als es dir vorkommt, das Rabbinat und dann ein Schnitt, ich gehe … Nun, was sagst du, gehen wir heute zum Rabbinat oder morgen?«
    »Nie«, sagte ich und weinte innerlich, meine Augen und meine Kehle blieben trocken.
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