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Wo fehlt's Doktor?

Wo fehlt's Doktor?

Titel: Wo fehlt's Doktor?
Autoren: Richard Gordon
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Kniehosen und mit Goldknöpfen verzierten Satinröcken gingen aus und ein, auf dem Kopf den Dreispitz und in der Hand den Spazierstock, aus dessen vergoldetem Knauf sie die aromatischen und angeblich desinfizierenden Düfte der darin verborgenen Kräuter inhalierten.
    Nachdem Edward Jenner und seine Milchmädchen aus Gloucestershire die Schutzimpfung gegen Pocken erfunden hatten, leerte sich das Lazarett und verfiel. In diesem desolaten Zustand wurde es ein Asyl für Tollwütige und andere gemeingefährliche Irre - aus der gesunden Überlegung heraus, daß derartige Leute ihre Umgebung sowieso nicht wahrnehmen. Gegen Ende der Viktorianischen Epoche wurde diese Abteilung, wie fast alle anderen des St.-Swith-in-Spitals, umgebaut und erhielt jene hellroten Ziegelmauern, die man damals wahllos für Schulen, Kirchen und Bahnhöfe verwendete. Nun war die Isolierstation hier untergebracht, das »Fieberspital«, ein immer wiederkehrendes Motiv in den Alpträumen der Kinder des Bezirks, für die das Tor hinter dem massiven Säulenvorbau nur zu oft das Riesenmaul eines alles verschlingenden Ungeheuers wurde.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten die Antibiotika viele Infektionskrankheiten zum Verschwinden, und aus dem Gebäude wurde ein Heim für Schwesternschülerinnen. Als es selbst für diesen Verwendungszweck zu baufällig wurde, ließ man es abreißen. Das Wohnviertel rund um das St.-Swithin-Spital war langsam heruntergekommen; nun versuchte man, es mit einem Experimentiertheater, lustigen kleinen Restaurants und Boutiquen anstelle der Geschäfte wieder aufzuwerten. Ein wenig schuldbewußt errichtete die Spitalsverwaltung auf den Trümmern des ehemaligen Lazaretts die drei komfortablen Häuser, mit der Begründung, daß heute, aufgrund der vielen komplizierten, neuen medizinischen Errungenschaften, die Fachärzte stets greifbar seien und in nächster Nähe des Spitals wohnen müßten. Die Häuser waren schnell vergeben; schließlich kostete die Miete einen Pappenstiel. In jedem der Häuser war der oberste Stock als getrennte Wohnung ausgebaut. Er wurde im Haus des Deans von Muriel okkupiert, und in Sir Lancelots Haus von Miß MacNish. Der Chirurg nahm stets die Gelegenheit wahr, Kollegen, die auf Besuch kamen, die massive Tür zur Wohnung im obersten Stockwerk zu zeigen. Schließlich war Miß MacNish nicht unhübsch und er selbst Witwer; Ärzte kamen, aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Menschheit, leicht auf schmutzige Gedanken.
    Als Sir Lancelot dahertrabte, beobachtete ihn aus dem obersten Stock des Hauses Nr. i, das der Hauptstraße am nächsten lag, ein großes blaues Augenpaar sehr genau.
    »So etwas«, murmelte die Besitzerin des Augenpaars, »meint der alte Trottel wirklich, daß nicht jeder sofort merkt, was er vorhat?«
    An diesem Morgen bot sich den Bewohnern der Lazar Row ein mysteriöses Schauspiel dar. Sir Lancelot blieb an der Ecke stehen. Er nahm seine Jagduhr aus der Tasche, steckte sie wieder zurück, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte zum Himmel auf, als würde er die Chancen eines Regengusses abwägen. Er warf dabei einen verstohlenen Blick über die Schulter. Die Straße war menschenleer. Abrupt riß er sich den Hut vom Kopf, hielt ihn sich vors Gesicht und schritt eilig auf das Haustor von Nr. 1 zu.
    Die Frau mit den blauen Augen war bereits unten im Stiegenhaus angelangt, als er die Glocke betätigte.
    »Guten Morgen, Sir Lancelot.«
    »Ich komme hoffentlich nicht zu spät.«
    Hastig schob er sich ins Haus und schloß die Tür hinter sich.
    »Es ist genau Viertel nach zehn.« Seine Pünktlichkeit wurde mit einem Lächeln bedacht. Sie war groß und schlank, hatte einen hellen Teint, ihr blondes Haar war mit sichtbarer Sorgfalt frisiert, und für ihr Make-up mußte sie schon einige Morgenarbeit geleistet haben. Ihre Kleidung war einfach, aber nach der letzten Mode. Sir Lancelot schätzte sie auf Ende zwanzig. Er hielt sie für den Typ der eiskalt berechnenden, tüchtigen Sekretärin, die ihre Freundlichkeit genauso sorgsam dosiert wie ein Arzt die Medikamente. Plötzlich ertönten aus dem Obergeschoß, auf einer Violine gespielt, die ersten Takte von Mozarts »Kleiner Nachtmusik«.
    »Er erwartet mich doch wohl, Mrs. Tennant?« fragte Sir Lancelot ein wenig besorgt.
    »Natürlich.« Sie schien die Frage übelzunehmen. »Er hat sich heute früh nicht ganz auf der Höhe gefühlt.« Sir Lancelot ging hinter ihr in den ersten Stock hinauf. Das Violinspiel setzte mitten im Takt aus, als
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