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Wo bitte geht's nach Domodossola

Titel: Wo bitte geht's nach Domodossola
Autoren: Bill Bryson
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mittlere diente als Überholspur für beide Fahrtrichtungen. Mein neuer Freund schien dieses System nicht ganz zu begreifen. Er flitzte auf die mittlere Spur und wirkte aufrichtig erstaunt, dort einen Vierzigtonner auf uns zu donnern zu sehen. War er dem Lkw dann im allerletzten Moment ausgewichen, lehnte er sich aus dem Fenster und rief dem vorbeibrausenden Fahrer Schimpfwörter nach, bis er von seiner Frau und mir kreischend auf die nächste drohende Katastrophe aufmerksam gemacht wurde. Später erfuhr ich, daß Luxemburg die höchste Quote von Verkehrstoten innerhalb Europas aufzuweisen hat, was mich nicht im geringsten wundert.
    Nach halbstündiger Fahrt hatten wir Arlon erreicht, eine trostlose Industriestadt, in der alles grau und staubig aussah, sogar die Menschen. Der Mann bestand darauf, daß ich bei ihnen zu Abend aß. Seine Frau und ich protestierten – ich aus Höflichkeit, sie mit unverhohlenem 15
    Abscheu –, aber er tat unsere Einwände als weitere liebenswerte Marotten ab, und ehe ich wußte, wie mir geschah, wurde ich eine dunkle Treppe hinaufgeschoben und fand mich in der winzigsten und leersten aller Wohnungen wieder. Sie hatte nur zwei Zimmer – eine Küche, so groß wie ein Kleiderschrank, und einen Mehrzweckraum mit einem Tisch, zwei Stühlen, einem Bett und einem tragbaren Plattenspieler mit nur zwei Platten, die eine von Gene Pitney, die andere von einer englischen Bergwerksblaskapelle. Er fragte mich, welche ich hören wollte. Ich überließ ihm die Wahl. Er legte Gene Pitney auf, verschwand in der Küche, wo seine Frau ihn mit keifendem Geflüster empfing, und tauchte verlegen mit zwei Gläsern und zwei großen, braunen Flaschen wieder auf. »Nun machen wir es uns gemütlich«, versprach er und goß mir etwas ein, das sich als sehr warmes, helles Bier entpuppte. »Oom«, sagte ich und gab mir Mühe, dankbar zu klingen. Ich wischte mir den Schaum vom Mund und fragte mich, ob ich einen Sprung aus dem zweiten Stock überleben würde. Da saßen wir, tranken Bier und lächelten uns an. Ich überlegte, woran mich das Bier erinnerte, und kam schließlich drauf, daß es einer riesigen Urinprobe ähnelte, vermutlich der eines Elefanten. »Good, yes?« fragte der Belgier.
    »Oom«, sagte ich wieder, ohne das Glas an die Lippen zu setzen.
    Ich war zum ersten Mal von zu Hause fort. Ich befand mich auf einem seltsamen Kontinent, auf dem sie nicht meine Sprache sprechen. Ich hatte soeben 4000 Meilen in einer Kühltruhe mit Flügeln zurückgelegt, ich hatte dreißig Stunden nicht geschlafen, hatte mich neunundzwanzig Stunden nicht gewaschen und saß nun in einer winzigen, spartanischen Wohnung in einer unbekannten Stadt in Belgien und sollte mit zwei sehr sonderbaren Menschen zu Abend essen.
    Madame Sonderbar erschien mit drei Tellern. Auf jedem lagen zwei Spiegeleier und sonst nichts. Scheppernd setzte sie die Teller ab. Sie und ich nahmen am Tisch Platz, während sich ihr Mann auf die Bettkante hockte. »Bier und Eier«, sagte ich, »eine interessante Zusammenstellung.«
    Das Abendessen dauerte vier Sekunden. »Oom«, sagte ich, wischte mir das Eigelb vom Mund und tätschelte meinen Magen. »Das war ausgezeichnet. Vielen Dank. Aber nun muß ich wirklich gehen.« Madame Sonderbar fixierte mich mit einem Blick, der leidenschaftlichen Haß
    verriet, doch Monsieur Sonderbar sprang auf die Beine und packte mich bei den Schultern. »Nein, nein, du mußt dir noch die andere Seite der Platte anhören. Trinken wir noch ein Glas Bier.« Er drehte die Platte um, und schweigend an unseren Gläsern nippend hörten wir zu. Anschließend brachte er mich mit dem Auto ins Stadtzentrum, zu einem kleinen Hotel, das einst bessere Zeiten gesehen haben mochte, das aber nun voller nackter Glühbirnen hing und von einem Mann in einem Unterhemd geführt wurde. Der Mann begleitete mich auf dem langen Marsch eine weitläufige Treppe hinauf und dunkle Korridore entlang, bis er mich in einem geräumigen Zimmer mit nacktem Fußboden allein zurückließ. In der schummrigen Weite des Zimmers erkannte ich einen Stuhl mit einem Handtuch über der Rückenlehne, ein angeschlagenes Waschbecken, einen absurd großen Schrank und ein gewaltiges Eichenbett. Ich ließ meinen Rucksack fallen und warf mich aufs Bett, die Schuhe noch an den Füßen. Erst dann bemerkte ich, daß sich der Lichtschalter für die Zwanzigwattbirne, die irgendwo im Halbdunkel über mir baumelte, am anderen Ende des Zimmers befand, doch ich war zu erschöpft, um
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