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Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin

Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin

Titel: Wladimir - die ganze Wahrheit über Putin
Autoren: Stanislaw Belkowski
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begrüßen, niemand schrie »Hurra«, niemand winkte mit Fähnchen. Niemand zeigte ihm auch nur den ausgestreckten Mittelfinger. Der Präsident befand sich in absoluter Einsamkeit – als fahre er durch die Hauptstadt eines okkupierten Landes.
    Davon war in den staatlichen russischen Fernsehsendern natürlich nicht die Rede. Aber man konnte es an den Fernsehbildern leicht erkennen. Unsere Blogger luden in den sozialen Netzwerken Hunderte von Fotografien hoch, die Putins Amtseinführung ähnlichen Prozeduren in den USA oder in Frankreich gegenüberstellten, wo es große Menschenansammlungen und aufrichtigen Jubel gab. Am 7. Mai 2012 herrschte in Moskau Grabesstille.
    Und all das geschah in der Stadt, wo nach offiziellen Angaben fast 47 Prozent der Wähler für Putin gestimmt hatten! Niemand ließ sein Wochenendgrundstück, sein Wodkagläschen oder den allerneusten Superthriller stehen und liegen. Das Volk zeigte für seinen gewählten Herrscher keinerlei erkennbares Interesse. Selbst in den sozialen Netzwerken – von Facebook bis Twitter – wird man kaum ein Grußwort für den zurückgekehrten Präsidenten finden. Zu 99 Prozent sind es bissige, ironische, sarkastische, teilweise offen beleidigende Anmerkungen und Kränkungen.
    Vielleicht war es Putin auch gleichgültig – wer weiß? Vielleicht waren für ihn nur die Tatsache seines Sieges und seine absolute Unanfechtbarkeit in juristischer und amtlicher Hinsicht wichtig? Zumal ihm trotzdem alle Staatsoberhäupter weltweit gratulieren und alle Fragen der Legitimität seiner neuen Amtszeit im Kreml von selbst wegfallen würden. Und das Volk? Was soll mit ihm schon sein? Das Volk war schon immer das Volk.
    Das mag so sein oder auch nicht. Putin ist ein zielstrebig alternder Autokrat. Und ein Regent dieses Typs möchte nicht einfach nur die Macht, deren er nach all den Jahren ohnehin überdrüssig ist. Er will Liebe. Doch stattdessen bekam er am 7. Mai nur die absolute Gleichgültigkeit seiner Hauptstadt Moskau zu spüren.
    Es muss doppelt kränkend für ihn gewesen sein. Im Jahr 2000, als der Abkömmling der Sümpfe an der Ochta zum ersten Mal russischer Präsident wurde, gab es viele Erwägungen und Gerüchte über eine vollständige oder teilweise Verlegung der Hauptstadt nach Sankt Petersburg. Auch ich war ein Anhänger dieses Konzepts, und zwar aus einem einfachen Grund: Petersburg ist der russische Schlüssel zu Europa, die Stadt ist das Tor, das nach Westen weist. Moskau hingegen ist durch seine Hauptstadtfunktionen nicht nur überlastet, es symbolisiert auch viel zu deutlich die mongolische Herrschaftstradition und die Eigenarten des russischen Staatswesens. Schließlich geschah es ja unter der Mongolenherrschaft, dass Moskau zum politischen Zentrum wurde.
    Deswegen hätte ich es sinnvoll gefunden, einige staatliche Organe in die nördliche Hauptstadt zu verlegen, die nicht jeden Tag tagen – den Föderationsrat, den Sicherheitsrat, die hohen Gerichte. Gleichzeitig hätte ich es aus historischer, politischer, logistischer und infrastruktureller Sicht richtig gefunden, der Stadt den offiziellen Status einer Hauptstadt Nummer zwei zu verleihen, die formal der Hauptstadt Nummer eins gleichgestellt ist, und dort eine zweite Residenz des Staatsoberhaupts einzurichten.
    Eine solche Entscheidung hätte dem Geist von Petersburg, der schönsten Stadt Europas, eine Renaissance beschert. »Wenn Petersburg keine Hauptstadt ist, dann ist es nicht Petersburg«, sagte Andrei Bely, der berühmte russische Dichter und Schriftsteller des sogenannten Silbernen Zeitalters (der ersten fünfzehn Jahre des 20. Jahrhunderts). Anna Achmatowa schrieb, dass der Verlust des hauptstädtischen Geistes die Stadt »St. Pete« schlicht und einfach zu einem »besiedelten Ballungsraum« gemacht hat. Lew Oserow, der heute halb vergessene Versdichter aus sowjetischen Zeiten, nannte Petersburg »eine große Stadt mit regionalem Schicksal«. Eine teilweise Verlegung der Hauptstadt in den Nordwesten hätte Petersburg geholfen, diesen Provinzfluch zu überwinden.
    Putins Leute hatten sich bereits darauf vorbereitet, wobei ihre Motive selbstverständlich völlig andere waren als die des Autors dieser Zeilen. Wladimir Koschin, dem Leiter des Präsidialamts, lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er sich auf Schmierzetteln ausrechnete, wie viele Milliarden Dollar man über das Projekt »Neue Hauptstadt« aus- und abschreiben konnte. (Damals konnte sich noch niemand vorstellen, welche Ausmaße
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