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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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sind andere als damals.
    Milton, Mill und ihre Nachfolger setzen die Geltung eines Prinzips der Harmonie des Belegmaterials voraus: Die öffentliche Diskussion über Streitfragen spiele sich so ab, daß sich jene, die das abschließende Urteil sprechen, dabei auf die empirischen Belege stützen können, die die konkurrierenden Standpunkte jeweils unterfüttern. Im Rahmen der Debatte, von der dieser Essay ausging, wird dieses Prinzip offensichtlich mißachtet. Denn nur ein winziger Bruchteil derjenigen, deren Interessen vom Klimawandel betroffen sein werden, ist auch nur im mindesten dazu in der Lage, mit den Belegen für oder gegen die Hauptthesen, die in der öffentlichen Kontroverse eine Rolle spielen, etwas anzufangen. Die Annahme, nach der die Leser der Zeitungsartikel, die Hörer der Radiosendungen, die Zuschauer der Fernsehnachrichten oder die Besucher der diversen Internet-Adressen dadurch zu einer »deutlicheren Wahrnehmung und einem lebhafteren Eindruck des Richtigen« gelangen, ist ein absurdes Hirngespinst. Wenn man allen diesen Medienquellen auf den Grund geht, wird offensichtlich, daß diejenigen, die die Wahrheit unterdrücken wollen, über zahlreiche Waffen verfügen. Leugner des Klimawandels lassen sich von spendierfreudigen großindustriellen Paten großzügig ausstatten, um ihre Botschaft mit raffiniert gemachten Videoclips zu verbreiten. Rhetorisch schmücken sie sich mit den Tugenden der Diskussionsfreiheit und rühmen ein wackeres Ideal, während sie zur selben Zeit Bedingungen schaffen – nämlich Arenen, in denen Produktionszahlen an die Stelle von Gründen treten –, die jede Aussicht auf Verwirklichung dieses Ideals zunichte machen.
    In der heutigen Welt ist es unwahrscheinlich, daß Marktmechanismen die Verbreitung zutreffender Informationen begünstigen. Selbst wenn Ungenauigkeiten aufgespürt und für wichtig erachtet werden, läßt sich ihre öffentliche Verbreitung behindern. Die Medien dürfen mit hohen Gewinnen rechnen, wenn sie nüchterne Reportage durch Sensationsmache und Aufklärung durch Unterhaltung ersetzen. Vor allem in Gesellschaften, in denen tiefreichende politische und religiöse Differenzen bestehen, können Marktnischen mit einem Zusammenhang von Einstellungen definiert werden, der mit Hilfe der neuesten »Nachrichten« ständig verstärkt werden muß. Wer den entsprechenden Sender einschaltet, kann sicher sein, daß seine Grundüberzeugungen nicht in Frage gestellt werden. Außerdem gilt: Je ungenauer das Weltbild der Bürger, desto weniger sind sie dazu imstande, sich kritische Gedanken über ihre bevorzugten »Informations«-Quellen zu machen. Die Welt, in der sie leben, ist von den Vorstellungen, die sich Milton und Mill gemacht haben, weit entfernt.
    Doch selbst wenn diese vertrauten Merkmale der Verbreitung »öffentlichen Wissens« nicht gegeben wären, würde es dennoch schwerfallen, die Probleme der nicht identifizierbaren Repression, denen wir gegenüberstehen, zu bewältigen. Es gibt nämlich eine wichtige Einsicht, die auf Thomas Kuhn – und letztlich auf Ludwik Fleck – zurückgeht und jede Möglichkeit einer rechtzeitigen Beilegung technischer Kontroversen in einem öffentlichen Forum in Frage stellt. Kuhns historische Beispiele zeigen klar, daß die Überlegungen, die vielen wissenschaftlichen Debatten zugrunde liegen, subtil und heikel sind, daß Lösungen nur langsam erreicht werden und daß ein komplexes Argumentationsgewebe ausgearbeitet werden muß, ehe man auch nur zu einem annähernden Konsens gelangen kann. 8 Das wissenschaftliche Entscheidungsverhalten gehorcht keinem Algorithmus (auch wenn die Philosophen weiter von einem solchen Algorithmus träumen), und es gibt weder ein einzelnes Indiz noch ein einzelnes Argument, das jeden überzeugen könnte. Also selbst wenn man allgemeines Entgegenkommen und tadellose Aufrichtigkeit unterstellen dürfte, würde uns die Aufgabe, die Kontroverse um den Klimawandel öffentlich einer Lösung zuzuführen, vor gewaltige Herausforderungen stellen. Es ist schlicht unrealistisch, zu erwarten, daß die Festlegung der Demokratie auf »freie und offene Diskussionen« die zahlreichen Probleme der nicht identifizierbaren Repression lösen wird, denen sich die Bürger moderner Gesellschaften gegenübersehen, oder daß offene Debatten die politischen Führer unter genügend Druck setzen werden, um sie zur Gestaltung politischer Maßnahmen zu veranlassen, die den eigentlichen und zentralen Interessen fast aller
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