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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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geschichtlich entwickelt. Ihr Ansehen beruht nicht auf der naiven Überlegung, die »Regierung durch das Volk« werde zu politischen Maßnahmen führen, die den Volkswillen ausdrücken, sondern es beruht auf der offenkundigen Fähigkeit der Demokratie, das Problem der identifizierbaren Repression zu lösen. Dieses Problem stellt sich in Gesellschaften, in denen die große Mehrheit der Menschen ganz deutlich erkennen kann, daß die Regierenden in einer Art und Weise handeln, die den Mehrheitsinteressen direkt zuwiderläuft: Die Entbehrungen und Leiden, die sie zu spüren bekommen, lassen sich problemlos und fehlerfrei auf die Handlungen ihrer Unterdrücker zurückführen. Die Festsetzung bestimmter Grenzen in einer geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassung ist ein erster Schritt zur Selbstverteidigung gegen tyrannische Übergriffe, doch wenn die Regierenden die Grenzen überschreiten, ist es die Maschinerie der Wahlen und der Stimmabgabe, die ihre Abberufung ermöglicht. Wenn man über das vorige Jahrhundert und die Diktaturen nachdenkt, die sich in vielen Weltgegenden erfolgreich gehalten haben, wird klar, wie wichtig es ist, eine Lösung für dieses Problem zu finden.
    Heute haben es die menschlichen Gesellschaften jedoch mit einem anderen Problem zu tun, nämlich mit dem Problem der nicht identifizierbaren Repression . Selbst in den besonders wohlhabenden Demokratien von heute leiden bestimmte Bürger unter politischen Regierungsmaßnahmen, die ihnen die Chance zur Verwirklichung ihrer legitimen Interessen nehmen. Weder die Kinder, die gefährliche, miserabel ausgestattete Schulen mit schlecht ausgebildeten Lehrern besuchen, noch ihre Erziehungsberechtigten (häufig ein alleinerziehender Elternteil oder eine lustlose Großmutter) können die Ursachen der Verhältnisse, die ihre Zukunftsaussichten von frühester Jugend an derart schmälern, ohne weiteres erkennen. Die Auswirkungen einer Nebelwolke bürokratischer Regierungsentscheidungen »rieseln herab« auf ihr muffiges Leben (endlich einmal ist der Ausdruck » trickle down « angemessen). Erst wenn die demokratische Regierungstätigkeit durch öffentliches Wissen verstärkt wird, kann die Demokratie mit solchen Problemen fertig werden. Sind die für die Beeinträchtigung der Bürgerinteressen verantwortlichen Faktoren den meisten unbekannt, verkommt die »Regierung durch das Volk« zu einem nichtssagenden frommen Wunsch. Zum Teil hatte Platon eben doch recht.
    In einer Welt mit komplexer Arbeitsteilung, in der folgenreiche Entscheidungen von Spezialkenntnissen abhängen, deren Formulierung im Regelfall für die allermeisten Menschen unverständlich ist, sind Probleme der nicht identifizierbaren Repression überall anzutreffen. Bei vielen Ursachen der heutigen Repression ist es nicht ausreichend, wenn sich die Demokratie damit begnügt, den Schutz gegen offensichtliche Tyrannei zu gewährleisten (obschon dieser Schutz wichtig ist). Die Demokratie muß sich weiterentwickeln.

    4.
    An diesem Punkt könnte der folgende naheliegende Gedanke ins Spiel kommen: Demokratische Gesellschaften sind nicht nur auf verfassungsmäßige Garantien und Chancen zur Abwahl derjenigen festgelegt, die gegen Normen verstoßen, sondern sie zeichnen sich außerdem durch »freie und offene« Diskussionen aus. Damit wird uns genau das geliefert, was wir benötigen. Ausgestattet mit Mutterwitz, gesundem Menschenverstand, naturgegebener Vernunft (oder was uns sonst noch einfallen mag), vermögen die Bürger den für sie relevanten Streitfragen Gehör zu schenken, sie zu beurteilen und die Dinge, die sie wissen müssen, als solche zu erkennen. Die heutige Begeisterung für die Wunderwirkungen »fairer und ausgeglichener« Debatten – die allenfalls von der Begeisterung für die Wunderwirkungen des »freien Marktes« eingeholt wird – übersetzt Ideen in den modernen Kontext, die auf elegante und beredte Weise schon vor Jahrhunderten formuliert worden sind. So stellt John Milton die rhetorische Frage: »Wer hat je gehört, daß die Wahrheit in einem freien und offenen Gefecht unterlag?«, und John Stuart Mill preist die »deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht«. 7 Vielleicht hatten Milton und Mill recht mit ihrer Überzeugung, die öffentliche Diskussion werde im Hinblick auf die Streitfragen, die ihnen am meisten am Herzen lagen, den erwarteten Nutzen bringen. Aber die Umstände, unter denen wir heute leben,
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