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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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völlig verkehrt sein können – und da sie ferner einsehen müssen, daß diese Möglichkeit in verschiedenen Gesellschaften und verschiedenen Situationen Wirklichkeit geworden ist –, können sie nicht umhin, die gleiche Zwischenkonklusion zu ziehen wie Platon, der zufolge Demokratien manchmal (und vielleicht häufig) politische Maßnahmen ergreifen, die den Interessen der meisten ihrer Bürger zuwiderlaufen. Wenn man das nicht als Katastrophe bezeichnen will, muß das entweder daran liegen, daß die mangelnde Übereinstimmung zwischen Politik und Interessen unter demokratischen Regierungen weniger häufig vorkommt als in anderen Systemen, oder daran, daß die von der Demokratie gewährte Freiheit einen besonderen Wert hat, der die Vereitelung von Mehrheitsbestrebungen wettmacht.
    Es ist in der Tat möglich, politische Idealsysteme zu ersinnen, die den Interessen der Bürgermehrheit vollkommen gerecht werden. Platon selbst hat eine solche Utopie entworfen, in deren Rahmen die perfekte Übereinstimmung gewährleistet sein sollte. Zum Teil läßt sich die Demokratie mit dem Hinweis verteidigen, so etwas wie eine auch nur annähernde Entsprechung zwischen Politik und Mehrheitsinteressen sei in einer von Menschen bestimmten Welt nicht durchzusetzen: Kein Bildungssystem könne die Wächter hervorbringen, die in ihrer Person tiefe Einsicht und Unbestechlichkeit miteinander verbinden. Doch selbst wenn man seine Zweifel hinsichtlich der unvermeidlichen Käuflichkeit politischer Führer suspendiert, bliebe dem demokratischen Entscheidungsprozeß ein weiterer Vorteil erhalten, und zwar ein Vorteil, der sich aus der durch Demokratie ermöglichten Freiheit ergibt. Es ist nämlich wirklich etwas dran an der Vorstellung, daß wir durch eigenständiges Handeln auch dann etwas gewinnen, wenn andere in unserem Namen bessere Entscheidungen treffen könnten. Die Freiheit, sich zu äußern, überwiegt die zusätzlichen Fehler.
    Wie weit kann das gehen? Angenommen, den meisten Angehörigen eines Gemeinwesens – oder sogar der überwältigenden Mehrheit der Menschen überhaupt – sei ein grundlegendes Anliegen gemeinsam. Ferner sei angenommen, dieses Anliegen sei für das Leben und die persönlichen Pläne der Menschen so bedeutsam, daß ihr Leben und ihre Pläne völlig ruiniert und gescheitert wären, falls dieses Anliegen nicht erfüllt wird. Wäre eine Demokratie, deren Politik dieses Anliegen gefährden – oder sogar schädigen – würde, einer Autokratie vorzuziehen, deren Politik der Verwirklichung dieses Anliegens förderlich wäre? Ist die Freiheit, selbständig entscheiden zu dürfen, wertvoller als die Beeinträchtigung der wichtigsten Ziele und Interessen der meisten Menschen?
    Für viele von uns Menschen gilt, daß unsere Hoffnungen im Hinblick auf unsere Nachfahren mit einem Gefühl für die eigene Identität verknüpft sind. Zum Ausdruck kommen diese Hoffnungen in den Opfern, die wir unseren Kindern und Enkeln bringen, aber der Bereich, auf den sich unsere Hoffnungen beziehen, reicht weiter als diese Opferbereitschaft: Unser Leben verliert seinen Wert, falls wir einsehen müssen, nicht das Nötige getan zu haben, um unseren Nachfahren zu ermöglichen, ihrerseits ein sinnvolles Leben zu führen (wobei unter »Nachfahren« nicht nur biologische Verwandte zu verstehen sind, sondern auch die nach uns kommenden Angehörigen unserer Gemeinschaft). Kämen wir zu der Überzeugung, wir hätten ihre Lebenswelt gefährdet und Dinge getan, die es ihnen unmöglich machen, auf unserem Planeten ein sicheres und gesundes Leben zu führen, würden wir glauben, eine wichtige Pflicht, die wir ihnen schulden, versäumt zu haben. Da wäre es kaum ein Trost, auf den vermeintlich hohen Wert zu pochen, der der Mitwirkung an zutiefst uninformierten demokratischen Entscheidungen zukommen soll.
    Die der Demokratie unterstellte »grundsätzliche Festlegung« gehört zu einem allzu simplen Bild von Demokratie. Platon und die Freunde der Demokratie, die ich mir oben ausgemalt habe, sind im Irrtum. Freilich ist die demokratische Freiheit eine wertvolle Sache, doch ihr Wert gründet in der Förderung der Bürgerinteressen. Die eigene Stimme spielt im demokratischen Prozeß deshalb eine Rolle, weil sie es ermöglicht, die eigenen Interessen deutlich zu machen. Insofern die zum Ausdruck gebrachten Präferenzen jedoch unseren Interessen zuwiderlaufen, hat die abgegebene Stimme keine Bedeutung.
    Die Demokratie ist ein politisches System, das sich
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