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Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Titel: Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
Autoren: Hannah Beitzer
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Bald begann eine Gruppe Frauen um die Kommunikationsberaterin Anne Wizorek, die sich auf Twitter @marthadear nennt, die Schilderungen unter dem Hashtag «#Aufschrei» zu sammeln. Frauen erzählten dort von Chefs, die ihnen rieten, reich zu heiraten, weil es schließlich systematische Gehalts- und Aufstiegsdiskriminierung gebe, und von der – eigentlich verbotenen – Frage im Vorstellungsgespräch, wie denn die Lebensplanung so aussehe. Sie erzählten auch von der Erfahrung, als junge Frau automatisch für die Sekretärin oder die Praktikantin gehalten zu werden – nichts gegen Sekretärinnen oder Praktikantinnen, aber das offenbart doch ein Frauenbild, das eine weibliche Karriere nicht vorsieht. Von Redakteuren, die Autorinnen fragen: «Wieso wollen Sie eine Rechnung stellen – verdient Ihr Mann nicht genug?» Von Kunden, die den Chef fragen, ob man die Mitarbeiterin mal zum Abendessen einladen dürfe. Eine Bundestagsmitarbeiterin konterte die Anekdoten von sexistischen Politikern mit denen von sexistischen Journalisten, von denen sie als «Frischfleisch» bezeichnet wurde.
    Bereits kurz nach dem Erscheinen der beiden Artikel liefen in den konventionellen Medienhäusern und im Netz völlig gegensätzliche Prozesse ab. Während die großen Zeitungen noch auf den Fragen herumkauten, wie verwerflich Brüderles Dirndl-Spruch war, ob der Stern eine Kampagne gegen die FDP fahre, wie zulässig der Zeitpunkt der Veröffentlichung war, setzten Feministinnen mit der #Aufschrei-Debatte auf Twitter einen total anderen Schwerpunkt.
    Ihnen ging es nicht um Parteipolitik, um Medienkampagnen und den grabschenden oder nicht grabschenden Brüderle. Sondern sie machten schnell deutlich, was die alten Medien zu diesem Zeitpunkt noch bagatellisierten: dass Sexismus ein Problem ist, das über den Politikbetrieb weit hinausgeht. Zu Tausenden berichteten Frauen und Männer von Alltagssexismus – sicher, manche Vorfälle waren schlimm, bei manchen war die Grenze zu missglückter Anmache eher schwer zu ziehen. Blogger und Bloggerinnen machten sich Gedanken über den richtigen Umgang miteinander, diskutierten, stritten sich, rätselten über richtige Anmachtechniken, trösteten sich gegenseitig, beschimpften sich aber auch, brachten die unterschiedlichsten Argumente und Sichtweisen in die Debatte ein. Doch vor allem zeigte die Diskussion: Gerade weil hier völlig unterschiedliche Meinungen vorherrschen, ist die Frage nach Gleichberechtigung noch lange nicht ausdiskutiert, wie viele jahrelang dachten.
    Die Resonanz war so überwältigend, dass die Debatte vom Netz in die Medien schwappte. Zunächst interviewten größtenteils Online-Medien die Initiatorin von #Aufschrei, Anne Wizorek – als Netzphänomen. Dann jedoch kamen die großen Talkshows und Zeitungen. Plötzlich saß da eine bislang völlig unbekannte junge Frau neben Günther Jauch und ließ den Moderator ganz schön alt und hilflos aussehen in dem Versuch, sie mit plumpen Sprüchen zu provozieren.
    «Es ist, als fingere das alte Denken nach der Revolution und erwische sie nicht einmal am Rockzipfel», beschreibt
SZ
-Redakteurin Kia Vahland in ihrem Artikel «Die Koalition der Vernünftigen» das Aufeinandertreffen. Wizorek habe eine Massenbewegung angestoßen, die dem überkommenen Stereotyp vom rücksichtslosen Frauenhelden über alle Altersgruppen, soziale Schichten und Geschlechtergräben hinweg eine Absage erteilt. Und, ganz nebenbei, hatte sie es ins Feuilleton so gut wie jeder angesehenen Zeitung des Landes geschafft.
    Jetzt sollte auch dem letzten Netz-Skeptiker langsam dämmern, dass das Internet längst eine Gegenöffentlichkeit zu den konventionellen Medien ist, das Zeitungen und Fernsehsender inzwischen locker vor sich her treiben kann – die US -Wahl lässt grüßen. Sicher, den Anstoß zur Debatte haben konventionelle Medien gegeben, nämlich
Spiegel
und
Stern
. Und es spielt auch eine Rolle, dass dort inzwischen selbstbewusste junge Frauen wie Meiritz und Himmelreich arbeiten, die unbehagliche Situationen thematisieren, anstatt sie schamvoll zu verschweigen. Die beiden Frauen haben ein Tabu gebrochen, indem sie sich selbst und ihr Unbehagen thematisierten.
    Doch ohne die Aktivistinnen und Aktivisten im Netz hätte sich die Debatte niemals so rasend schnell wegbewegt von den politisch relevanten Einzelfällen hin zur Gesellschaft im Allgemeinen. Im Netz bekamen Meiritz und Himmelreich die meiste Unterstützung, hier wurde klar, dass es längst nicht mehr nur um das
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