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Wir sind verbannt (German Edition)

Wir sind verbannt (German Edition)

Titel: Wir sind verbannt (German Edition)
Autoren: Megan Crewe
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jedes Mal so ein, dass sie später zur Arbeit gingen und wir die erste Stunde ausfallen lassen durften. Nachdem wir ausgeschlafen hatten und nach unten kamen, fanden wir unsere Geschenke vor, die Dad auf dem Tisch gestapelt hatte, und Mom bereitete uns genau das Frühstück, das wir uns am Abend zuvor gewünscht hatten. Und dann aßen wir alle zusammen.
    Was ich mir zum Frühstück gewünscht hatte, als ich im vorigen Jahr sechzehn wurde, habe ich ganz vergessen. Damals erschien es mir nicht wichtig.
    Ich schluckte einen Löffel Haferbrei herunter, und die Blaubeeren glitten mir in einem klebrigen Klumpen den Hals hinab. Sie schmeckten zugleich schmerzlich vertraut und vollkommen fremdartig in dem Leben, das wir jetzt hatten.
    »Lass das Geschirr einfach in der Spüle stehen«, sagte Tessa, als ich aufgegessen hatte. »Ich kümmere mich schon darum.«
    Ich hätte Einwände erheben können, aber ich musste sowieso mal einen Moment allein sein. »Danke«, erwiderte ich deshalb. »Ich bin dann oben.«
    Merediths Zimmer kam mir jetzt, nachdem sie wieder aus dem Krankenhaus gekommen war, viel kleiner vor. Ich hatte ihr das Bett überlassen und die Klappliege aufgestellt, die fast die Hälfte der Fläche in Anspruch nahm. In einer Ecke stand der Karton mit den ganzen Sachen, die Dad in den letzten Monaten in der Klinik angesammelt hatte. Ich hatte ihn nach einem meiner Besuche bei Meredith von seiner Bekannten Nell bekommen, der einzigen Ärztin, die es noch gab.
    Ich ließ mich auf die Liege sinken und klappte den Deckel auf. Als ich den Karton mit nach Hause gebracht hatte, war ich den Inhalt nur flüchtig durchgegangen. Jetzt nahm ich den Wollmantel heraus, der zusammengefaltet obenauf lag, und presste das Gesicht an den kratzigen Stoff.
    Er roch wie mein Dad, nach Holz und Kaffee und Aftershave mit Zitrusduft. Als wäre ich wieder in Dads Arbeitszimmer und unterhielte mich mit ihm über irgendein seltsames Verhalten der Tiere oder eine besondere Naturerscheinung.
    Vor drei Wochen hatte er diesen Mantel noch angehabt. Ich schlang die Arme darum und kämpfte gegen die Tränen, als sich etwas Hartes in meinen Unterarm drückte.
    Ich fuhr mit der Hand am Futter entlang und stieß auf den Eingriffschlitz einer Innentasche. Als ich hineinfasste, spürte ich etwas Kaltes aus Metall.
    Die beiden Schlüssel, die ich herauszog, hingen an einem zierlichen Ring, an dem ein Anhänger mit einem durch eine Wellenlinie geteilten Halbkreis befestigt war. Das Logo des Forschungszentrums, in dem Dad gearbeitet hatte.
    Ich starrte sie an. Als ich Dads Habseligkeiten abholte, hatte ich vergeblich gehofft, den Schlüssel für das Forschungszentrum zu finden. Ich hatte jeden einzelnen probiert, von dem großen Bund, den Nell mir damals ausgehändigt hatte, doch keiner davon hatte in das Schlüsselloch gepasst. Sie waren hier gewesen, getrennt von den anderen und versteckt, die ganze Zeit über.
    Und jetzt hatte ich sie gefunden.
    Endlich konnte ich nachsehen, woran er zwischen seinen Schichten im Krankenhaus dauernd gearbeitet hatte. Wenn er auch nur ansatzweise dabei gewesen war, eine Therapie zu entwickeln, dann könnte Nell sie erproben. Oder ich könnte wenigstens etwas von der Laborausstattung rüber ins Krankenhaus bringen. Es war bestimmt etwas dabei, das wir brauchen konnten.
    Gavs Stimme klang leise von unten herauf. Wenn ich ihm sagte, wohin ich ging, würde er mich begleiten wollen. Vielleicht sogar sie alle. Bei dem Gedanken, den ersten Blick auf das letzte Stück von Dads Leben mit so vielen teilen zu müssen, wurde mir ganz anders.
    Ich faltete den Mantel zusammen und legte ihn in den Karton zurück. Das Labor war nicht weit. Ich würde nur rasch vorbeischauen und mich umsehen. Und am Nachmittag konnten wir es dann gemeinsam eingehender untersuchen.
    »Ich geh kurz raus, mir die Beine vertreten!«, rief ich, während ich mir die Stiefel anzog.
    »Soll ich dich begleiten?«, erkundigte sich Gav von der Wohnzimmertür aus.
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin gleich wieder da.«
    Die Luft draußen war frisch, fühlte sich aber nicht kalt im Gesicht an. Es war Tauwetter, ein paar Grad über dem Gefrierpunkt. Der Schnee, der in den letzten Wochen gefallen war, verwandelte sich in Rinnsale, die leise plätschernd in den Abwasserkanälen verschwanden.
    Sonst war es ruhig auf den Straßen. Letztes Jahr noch wären Leute draußen gewesen und hätten Schnee geschaufelt oder die Gehwege vom Eis befreit. Jetzt war hier niemand. Die
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