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Wir sind alle Islaender

Titel: Wir sind alle Islaender
Autoren: Halldór Gudmundsson
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knapp ein Viertel der Bevölkerung in den Westen, der Großteil davon nach Kanada – in Folge von Vulkanausbrüchen, harten Wintern und dem daraus resultierenden Lebensmittelmangel konnte das Land einfach nicht mehr Menschen ernähren. »New Iceland« nannten die Flüchtlinge die Gegend am Winnipegsee, wo sie sich
ansiedelten, und eine Zeitlang hatten sie dort sogar ihr eigenes Grundgesetz. Anfang des 20. Jahrhunderts ebbte die Siedlungswelle wieder ab. Wird sie sich jetzt, ein Jahrhundert später, wieder von neuem erheben? Und wo finden die Isländer nun das neue Island, das sie so dringend benötigen?
    Die Flucht gen Westen am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutete in den Augen mancher die endgültige Kapitulation vor den unüberwindbaren Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, auf Island zu leben. Schon seit Jahrhunderten war die Grenze der Bewohnbarkeit erreicht. Auch die so genannte Neuzeit brachte auf Island keine Fortschritte mit sich. Im Jahre 1801 lebten hier weniger Einwohner als im Jahre 1700, insgesamt 47 240 Menschen laut Volkszählung – wesentlich weniger als im 12. Jahrhundert. In Regierungskreisen der Kolonialmacht Dänemark diskutierte man im 18. Jahrhundert allen Ernstes, die wenigen Isländer auf die Heiden in Jütland umzusiedeln. Es würde sich nicht lohnen, Island bewohnt zu halten. Auch im 19. Jahrhundert war Reykjavík nur ein Dorf, »die ärmlichste Stätte, die ich je gesehen habe«, wie der amerikanische Reisende John Ross Browne in sein Tagebuch schrieb, »dessen Straßenbild von Hunden und Fliegen« dominiert werde. Urbanisierung, bürgerliche Kultur, Selbständigkeit: alles schien in weiter Ferne. Erst der Fischfang mit Trawlern ab 1906 markierte in Island die industrielle Revolution. Und erst der Zweite Weltkrieg, als die Zahl der amerikanischen Soldaten in Island ungefähr so groß war wie die Einwohnerzahl, brachte richtig Geld ins Land. In fünfzig Jahren machte Island danach die Entwicklung durch, die in anderen westlichen Ländern dreihundert Jahre dauerte. Die Isländer sind per Definition neureich.

    Im Jahre 2005 waren die Isländer dann das fünftreichste Land der Welt, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen. Jetzt, vier Jahre später, planen sie wieder die Flucht nach Manitoba. Was ist in der Zwischenzeit passiert?

    Es fing alles mit der Privatisierung der Banken Anfang des neuen Jahrhunderts an, sagt man jetzt. Vielleicht sollte man jedoch weiter zurückgehen. Die Unabhängigkeitspartei, seit dem Krieg größte Partei des Landes, stellte von 1991 bis Anfang 2009 die Regierung; stärkste politische Kraft war sie in den Nachkriegsjahren sowieso. Ihr Führer, der charismatische ehemalige Bürgermeister von Reykjavík, David Oddsson, wurde ein Jahr nach Margret Thatchers Abgang in England Premierminister in Island, und zwar mit ihrer Politik. Wie sie und seinerzeit Ronald Reagan war er ein Anhänger des wirtschaftlichen Liberalismus oder Neo-Liberalismus, wo Freiheit immer mehr Markt und weniger Staat bedeutet und die Politik sich idealerweise überflüssig macht; für Letzteres war Oddsson indes zu sehr Machtmensch. Vieles konnte auch in eine marktwirtschaftliche Richtung gelenkt werden: Der isländische Kapitalismus vor 1990 war in mancher Hinsicht ein Staatskapitalismus. Die großen Banken gehörten alle dem Staat, und um einen Kredit zu bekommen, war ein gutes Verhältnis zu einem Politiker manchmal genauso wichtig wie die eigene Solvenz. Man war lange verpflichtet, Einnahmen in ausländische Währung einzutauschen, und der Wechselkurs der Krone war staatlich festgeschrieben und wurde regelmä ßig heruntergesetzt. Bis 1986 gab es auch nur einen staatlichen Fernsehkanal, und die Printmedien waren fast allesamt
Parteizeitungen. Wirtschaftlich hatten sich die Isländer längst an eine haushohe Inflation gewöhnt: Als ich Mitte der achtziger Jahre als Verleger anfing, erhöhten wir vor jeder Weihnachtssaison die Buchpreise um dreißig Prozent, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre. Die isländische Krone war im Ausland ein Witz, mehr Verlass war da noch auf die gute alte Briefmarkensammlung. Sparen lohnte sich auf keinen Fall, in einem Land, wo die Zinsen meistens nicht mit der Inflation Schritt hielten. Das Resultat war ein anderes Verständnis von Geld, als es zum Beispiel die vorsichtigen Nachkriegsdeutschen haben, um es einmal behutsam zu formulieren.
    Das änderte sich alles in den neunziger Jahren. 1990 wurde das so genannte Quotensystem in der Fischerei
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