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Wir lassen sie verhungern

Wir lassen sie verhungern

Titel: Wir lassen sie verhungern
Autoren: Ziegler Jean
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diese Massenvernichtung verantwortlich ist.
    Aber man hat uns das Leben nicht immer leicht gemacht.
    Mary Robinson ist ehemalige Staatspräsidentin der Republik Irland und ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen. Dieser eleganten und hochintelligenten Frau mit den schönen grünen Augen können nur wenige UN-Bürokraten den ihr eigenen, grimmigen Humor verzeihen.
    2009 haben im Genfer Palais de Nations, dem Hauptsitz der Vereinten Nationen in Europa, 9923 internationale Konferenzen, Expertentreffen, Sitzungen multilateraler Verhandlungen stattgefunden. 7 2010 und 2011 war die Zahl noch größer. Bei vielen dieser Zusammenkünfte ging es um die Menschenrechte, vor allem um das Recht auf Nahrung.
    Während ihres Mandats hatte Mary Robinson für die meisten dieser Zusammenkünfte wenig übrig. Allzu häufig, meinte sie, ähnelten sie dem Choral Singing . Der Begriff ist fast unübersetzbar: Er bezeichnet den alten irischen Brauch dörflicher Chöre, die am Ersten Weihnachtstag von Haus zu Haus ziehen und die immer gleichen eintönigen und naiven Liedchen singen.
    Es gibt nämlich Hunderte von Bestimmungen des internationalen Rechts, von zwischenstaatlichen Institutionen, Nichtregierungsorganisationen, deren Daseinszweck die Eindämmung von Hunger und Mangelernährung ist.
    Tatsächlich betätigen sich auf allen Kontinenten Tausende von Diplomaten das ganze Jahr hindurch als Choral Singer in Sachen Menschenrechte, ohne dass sich jemals das Geringste im Leben der Opfer verändert. Warum ist das so?
    Ich vermag nicht zu sagen, wie oft ich in Diskussionen im Anschluss an meine Vorträge in Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien Einwände hörte wie etwa: »Würden die Afrikaner nicht so hemmungslos Kinder in die Welt setzen, hätten sie auch weniger Hunger!«
    Die Ideen von Thomas Malthus sterben eben nicht aus.
    Und was ist von den Verantwortlichen zu halten? Den Herren der Nahrungsmittelkonzerne, den gewichtigen Führern der Welthandelsorganisation (WTO), des Internationalen Währungsfonds (IWF), den westlichen Diplomaten, den Spekulationshaien und den Geiern des »grünen Goldes«, die behaupten, der Hunger sei ein natürliches Phänomen, das nur von einem total liberalisierten und privatisierten Weltmarkt besiegt werden könne? Der schaffe zwangsläufig Reichtümer, in deren Genuss dann ganz von alleine auch die vielen Millionen Hungernden kämen …
    In Shakespeares gleichnamigem Stück äußert König Lear eine pessimistische Weltsicht. Zum Grafen von Gloucester sagt er, sich auf den elenden Zustand der Welt ( wretched world ) beziehend: »Kann man doch sehn, wie es in der Welt hergeht ohne Augen« ( a man may see how this world goes with no eyes ). 8 König Lear irrt. Alles Bewusstsein ist vermittelt. Die Welt ist nicht »selbstevident«, sie gibt dem Auge nicht unmittelbar preis, wie sie wirklich ist – selbst dem gesunden Auge nicht.
    Die Ideologien verschleiern die Wirklichkeit. Und das Verbrechen breitet sich im Schutz dieser Tarnung aus.
    Die deutschen Marxisten der Frankfurter Schule – Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Walter Benjamin –, aber auch Ernst Bloch haben viel nachgedacht über die vermittelte Wahrnehmung der Wirklichkeit durch den Einzelnen und die Prozesse, kraft derer das subjektive Bewusstsein durch die Doxa eines sich immer aggressiver und autoritärer gebärdenden Kapitalismus entfremdet wird. Sie haben beschrieben, wie sich die herrschende kapitalistische Ideologie auswirkt, das heißt, wie sie den Menschen von Kindheit an dazu bringt, sein Leben freiwillig ihm weit entrückten Zwecken – insbesondere der Warenproduktion – unterzuordnen, und ihm auf diese Weise die Möglichkeit persönlicher Autonomie nimmt, durch die sich Freiheit manifestiert.
    Einige dieser Philosophen sprechen von einer »doppelten Geschichte«: auf der einen Seite die sichtbare, alltägliche Ereignisgeschichte und auf der anderen die unsichtbare Geschichte des Bewusstseins. Wie sie zeigen, wird das Bewusstsein von der Hoffnung auf die Geschichte, den Geist der Utopie, den aktiven Glauben an die Freiheit beeinflusst. Diese Hoffnung besitzt eine weltlich-eschatologische Dimension. Sie speist eine Untergrundgeschichte, die der real existierenden Gerechtigkeit eine einklagbare Gerechtigkeit entgegensetzt.
    Horkheimer schreibt, »dass nicht nur der unvermittelte Zwang diese Ordnung jeweils aufrechterhalten hat, sondern dass die Menschen selbst sie bejahen lernten.« 9 Um
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