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»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«

»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«

Titel: »Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
Autoren: Heather Poole
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eine Gesellschaft, die kaputte Armlehnen, Sitze und Gepäckfächer mit Klebeband »reparierte«. Unsere Gäste mussten auf Sitzen Platz nehmen, deren Polster so schmutzig waren, dass wir sie mit schwarzen Mülltüten abdeckten. Man sollte die Spuren von Urin oder Erbrochenem der vielen Kinder, die regelmäßig ohne erwachsene Begleitung mit uns flogen, nicht sehen. Im Gegensatz zu allen anderen Fluggesellschaften war die Zahl der Minderjährigen, die ohne Begleitung fliegen durften, bei uns nicht von vornherein beschränkt. Wir waren die Airline der zerrütteten Familien. Einmal zählte ich sage und schreibe zwölf Kinder ohne Begleitung auf einem einzigen Flug (das würde woanders niemals vorkommen). Probleme wie zu viel Gepäck oder eine schlechte Gewichtsverteilung wurden gelöst, indem man Koffer und Taschen aus dem Laderaum nahm – ohne die Passagiere darüber zu informieren. Erst nach der Landung erfuhren sie, dass sie ihr Gepäck frühestens am nächsten Tag würden abholen können. Natürlich sorgte das für einigen Ärger – mit dem Ergebnis, dass die Crew regelmäßig unter Polizeischutz aus dem Flugzeug eskortiert werden musste. Einmal mussten wir sogar hinter einer verrammelten Tür mit dem Schild »Nur für Mitarbeiter« warten, bis alle weg waren, und uns dann durch eine Hintertür hinausschleichen, um mit der Flughafenhochbahn zum Mitarbeiterparkplatz zu fahren. Wohl wissend, dass wir knapp 24 Stunden später wieder genau denselben Spuck- und Schimpftiraden ausgesetzt sein würden.
    Eines Abends sah ich einen verloren aussehenden Herrn in einer Ecke der Hochbahn kauern, der mich von Kopf bis Fuß musterte. »Etwas Böses kommt daher«, zitierte er zischend aus Macbeth . Schweigend saß ich da, die Hände um den Griff meiner Handtasche gekrallt, viel zu verängstigt, um etwas zu sagen oder mich vom Fleck zu rühren. Erst später dämmerte es mir: Er musste mit einer Maschine von Sun Jet geflogen sein.
    Unsere Verspätungen aufgrund technischer Probleme waren legendär. Wir stornierten niemals einen Flug – kein einziges Mal. Wieso auch? Schließlich gibt es bei einem Charterflug nur Geld, wenn die Maschine auch tatsächlich abhebt. Verspätungen bis zu achtundvierzig Stunden waren erlaubt. Das stand auf der Rückseite der Tickets im Kleingedruckten, das sowieso kein Mensch las. Einmal, während einer besonders großen Verspätung – die damit endete, dass die selbstverständlich nicht gewerkschaftlich organisierte Crew sich quer über die Sitze legte und im Flugzeug übernachtete – folgte mir ein wutschnaubender Passagier auf die Damentoilette im Terminal. Ich bemerkte ihn allerdings erst, nachdem ich mich auf der Klobrille niedergelassen hatte und der Mann mir durch die geschlossene Kabinentür gehörig die Meinung geigte. Ich hatte solche Angst, dass ich mich nicht mehr heraustraute, ganz zu schweigen davon, die Spülung zu drücken. Also blieb ich sitzen, bis er irgendwann endlich abzog. Bis zum heutigen Tag verlasse ich während eines Zwischenstopps die Maschine nur sehr ungern, um die Toilette aufzusuchen.
    Aber ich kann nicht behaupten, man hätte uns nicht gewarnt. Schon während der zweiwöchigen Pflichtveranstaltung in einem Mittelklasse-Hotel (das wir selbst bezahlen mussten) hatte uns zwanzig wissbegierigen Nachwuchs-Flugbegleitern die Ausbilderin eingebläut: »Unsere Passagiere kommunizieren nicht immer so, wie Sie und ich es in ähnlichen Situationen tun würden.« Es folgte eine lange Pause, ehe sie fortfuhr: »Sie werden viele Worte zu hören bekommen, die Sie vermutlich nicht gewohnt sind.« Ein Pilot, der mitgekommen war, um technische Fragen zu beantworten, lachte daraufhin so laut und schallend, dass die Ausbilderin ihn des Raumes verwies und sich eilig dem nächsten Punkt auf der Tagesordnung zuwandte.
    Aber eigentlich möchte ich es gar nicht so grauenhaft klingen lassen. Die Arbeit bei Sun Jet hatte auch schöne Seiten: Zu meiner Zeit arbeiteten dort lediglich sechzig Flugbegleiter, deshalb kannten wir uns alle gut und entwickelten ein Zusammengehörigkeitsgefühl, wie man es bei größeren Airlines nur sehr selten findet. Die gesamte Belegschaft, einschließlich der Piloten, war füreinander da. Wir gegen sie: die Passagiere, die Airline und der Rest der Welt – so lautete tagtäglich unser Motto. Wir stellten uns dem Kampf.
    Auch die sozialen Spielregeln waren kinderleicht: Die Crew, die den letzten Flug nach Hause bediente, musste die beiden anderen nach Dienstschluss
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