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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition)
Autoren: Karl-Heinz Ott
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seinem Bock herab, er sei hier nicht der einzige Gast. Dabei fahren außer ihm nur Pakete und Briefe mit, sonst nichts. Weshalb er sich wünscht, dass ein Rad bricht, und zwar auf der Stelle. Seine Kehle wird immer trockener, er bräuchte einen Schluck Wasser. Das Herz fängt an zu rasen, Schweiß bricht ihm aus, er fürchtet, dass es ihm gleich wie dem Organisten in Lyon ergeht und er mit Schaum vor dem Mund im Wageninneren zusammenbricht, was der Kutscher erst merken würde, wenn er in Genf die Tür öffnet und Jean-Jacques tot aus dem Wagen kippt.
    Lassen Sie mich an der nächsten Station heraus, ruft er zu ihm hinauf, ich steige aus.
    Der Kutscher hört nichts oder will nichts hören. Immer schneller geht es bergab, der Kutscher peitscht auf die Pferde ein und brüllt dabei. Jean-Jacques wird um sein Leben bang, er hält sich mit beiden Händen am Griff über dem Fenster fest und denkt: Ich will nicht heim, ich will nicht heim.
    Er atmet auf, als der Wagen an einem Gasthof bremst und der Kutscher schreit: Bitte schön!
    Ihm ist schwindlig, er weiß nicht, wo er ist. Einen Postknecht, der sofort zur Stelle ist, fragt er, ob es eine Kutsche nach Nyon gibt, die in Genf nicht hält.
    Um Genf, mein Herr, kommt keiner herum, schüttelt der Postknecht den Kopf.
    Eine halbe Tagesreise hinter Genf sieht Jean-Jacques in Nyon nach sechs Jahren zum ersten Mal seinen Vater wieder. Er will ihn nicht gleich als Erstes auf sein Erbe ansprechen. Es könnte sich wie ein Vorwurf anhören. Von einer Tante in Genf hatte er gehört, dass von Mutters Geld fast nichts mehr da ist. Jean-Jacques fühlt sich ganz schwach, so wie er jetzt vor seinem Vater steht. Die beiden spielen Fröhlichkeit, und nebenan steht eine Frau, die dabei ein bisschen mitspielen will.
    Du bist und bleibst mein Kind, sagt der Vater, auch wenn ich so etwas nicht verstehen kann. Jean-Jacques weiß, was damit gemeint ist. Dass ausgerechnet sein eigen Fleisch und Blut das calvinistische Licht der Vernunft dem katholischen Wahnsinn opfern musste, will dem Vater nicht in den Kopf. Um Religion geht es ihm dabei nicht.
    Vaters neue Frau findet, dass es selten einen so schönen Sommer gab. Und dass Nyon auf keinen Fall schlechter als Genf ist. Kleiner sei es, aber nicht schlechter. Kleiner und schöner. In Genf, sagt sie, möchte ich nicht leben. Größe an sich sei ja noch nichts Gutes. Was Jean-Jacques auch findet.
    Am liebsten würde er Papa fragen: Warum hast du mir nie geschrieben? Oder mich nie besucht?
    Als die Neue wissen will, ob er noch zum Abendessen bleibt, schüttelt er den Kopf. Er müsse leider noch weiter. Und zwar sofort. Es tue ihm leid. Ein andermal vielleicht.
    Er setzt seinen Hut auf, fällt dem Vater noch einmal um den Hals, gibt der Frau die Hand, verneigt sich und sitzt am Abend in einem Wirtshaus am See. Er hatte geglaubt, dass man im Haus des Vaters so lange bleiben kann, wie es einem gefällt, und nicht dankbar dafür sein muss, noch zum Vesper bleiben zu dürfen.
    Die ganze Nacht zieht er am Ufer entlang Richtung Vevey, wo Mama herkommt.
    Vor ein paar Jahren hatte sie abends zu ihrem Mann gesagt: Ich muss dringend ein paar Tage in Kur. Auf dem Weg zum Hafen wunderte sich ihr Kutscher noch, warum die Koffer so schwer waren, nur wegen eines kleinen Ausflugs nach Evian hinüber. Zwei Stunden später nahm sie sich im Hotel Royal ein Zimmer und schaute von der anderen Uferseite nach Vevey hinüber. Dann ging sie ins Hochamt, warf sich dem Bischof vor die Füße und rief: In deine Hände, o Herr, befehle ich meinen Geist.
    Zuerst dachte der Bischof, diese Frau ist verrückt, doch als er erfuhr, dass sie aus einem der ersten Häuser in Vevey stammt und sich zum wahren Glauben bekehren lassen will, war sie für ihn ein Geschenk des Himmels und ein Beweis dafür, dass es mit dem calvinistischen Spuk bald ein Ende hat.
    Noch am selben Tag saß sie beim Nachtmahl zwischen dem Bischof und dem sardischen König, dem auch das schöne Nizza, das Piemont und Savoyen gehören. Zwischen Forellen und Wachteln beschlossen die beiden, ihr eine monatliche Rente zukommen zu lassen, vorausgesetzt, sie ist bereit, noch viele verloren geglaubte Seelen aus ihrer Heimat in den Schoß der wahren Kirche zurückzuführen.
    Einen Tag später stand ihr Gatte in der Hotelhalle. Die einen blickten ihn mitleidig an, andere fingen an zu tuscheln, manche kicherten. Ein Lakai soll sich sogar die Frechheit herausgenommen haben, ihm zu raten, besser auf seine Frau aufzupassen. Als sie
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