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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition)
Autoren: Karl-Heinz Ott
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muss gemacht sein. Der Rest läuft dann ganz von allein. Würde sein Vater jetzt in der ersten Reihe sitzen, könnte er miterleben, wie für seinen Sohn hier und heute in Lausanne der Weg als berühmtester Komponist, den die Stadt Genf je hervorgebracht hat, beginnt. Was ihm im Augenblick aber alles nichts nützt, nachdem die Stille vor diesem Menuett bereits so unheimliche Ausmaße angenommen hat, wie man sie nicht einmal während der Passion Christi zwischen den letzten sieben Worten am Kreuz und dem Zerreißen des Vorhangs im Tempel erleben kann.
    Er reißt die Arme hoch, schreit eins, zwei, drei dazu, worauf tatsächlich ein Teil der Musikanten anfängt und ein anderer ihm nachfolgt, ja schließlich das ganze Orchester einstimmt, Jean-Jacques sich jedoch nicht entscheiden kann, ob er es mit triumphalem Gefuchtel anfeuern oder mit entsetzter Miene abbremsen und in ordentlichere Bahnen lenken soll, während der ganze Saal in immer lauteres Gelächter ausbricht und auch die Musiker vor Lachen kaum noch spielen können, allerdings zehn, zwölf Takte tapfer durchhalten, nur dass dabei schwer zu sagen ist, wer von ihnen an welcher Stelle ist.
    Noch in der gleichen Nacht flieht Jean-Jacques nach Vevey. Ab morgen will er wieder auf Mamas Spuren wandeln und dafür beten, ihr wenigstens noch ein einziges Mal im Leben zu begegnen.
    Ich bin zum Lieben geboren, murmelt er auf dem Pilgerweg zu ihrem Geburtsort vor sich hin. Ich bin zum Lieben geboren. Er weiß, dass sie nicht damit leben kann, ihn alleingelassen zu haben.
    Im ersten Frühlicht, als das Städtchen noch schläft, wandelt er über Pflastersteine, auf denen er ihre Schritte spürt. Aus Fenstern sieht er ihre Augen schauen. Den ganzen Tag lang zieht er durch die Straßen und Gassen, hin und her und her und hin, die immer gleichen Wege, wagt aber nicht, jemanden nach ihr zu fragen, und sei es, um ihren Namen reinzuhalten und ihn nicht mit bösen Blicken und wüsten Worten beschmutzen zu lassen. Wie noch nirgends bisher hat er hier in Vevey zum ersten Mal das Gefühl, dass Sprache alles kaputt machen könnte. Ein falsches Wort über Mama, und sie wäre vernichtet. Nie mehr könnte er sie dann so sehen, wie er sie bisher gesehen hat. Die Erinnerung daran, dass in Vevey jemand etwas Böses über sie gesagt hat, würde ihn nie mehr loslassen. Man muss mit seinen Gefühlen allein bleiben, sagt er sich, die Welt macht einem sonst alles kaputt.
    Als ihm einer der gestrigen Geiger auf der Straße entgegenkommt, verlässt Jean-Jacques auf der Stelle die Stadt. Was soll ich in Vevey, sagt er sich, wo es nicht einmal Mama ausgehalten hat? Lausanne muss er von nun an meiden. Sein Gepäck steht dort noch in der Herberge. Ab jetzt nennt er sich wieder Rousseau.
    Abends sitzt ihm in einem Wirtshaus eine mächtige Gestalt gegenüber, mit biblischem Bart und weißem Talar. Ein heiliger Mann, der durch die Welt pilgert und Spenden sammelt für die Wiederherstellung des Heiligen Grabes in Jerusalem. Noch nie hat Jean-Jacques einen Mann erlebt, der den ganzen Abend lang ununterbrochen essen kann, so viel, als löste sich alles, was er hinunterschluckt, sofort wieder in nichts auf. Und noch nie hat er einen Mann gesehen, der drei Krüge Wein trinkt und immer noch nüchtern ist. Was vielleicht sogar einen Teil seiner Heiligkeit ausmacht, denkt Jean-Jacques. Vermutlich ficht einen solchen Mann nichts Irdisches mehr an.
    Weil er nur Griechisch spricht und bloß wenige Worte Italienisch kann, fragt ihn der Mann, ob er ihm auf seinen Reisen als Dolmetscher helfen will. Es gibt zwei warme Mahlzeiten am Tag, an Wein soll es nicht fehlen. Ziel ist das Heilige Land, die Himmlische Stadt.
    Während der Kutschfahrten döst der dicke Mann meist vor sich hin, und wenn er wach ist, redet er nicht viel. Herrlicher getafelt hat Jean-Jacques in seinem Leben noch nie, und noch nie sind ihm die Leute mit so viel Respekt begegnet. Gespendet wird überall reichlich, in manchen Gemeinden sogar der Rat einberufen, um sofortige Sonderausgaben zu beschließen. Jean-Jacques sieht sich bereits als Schatzmeister des Heiligen Grabes, umgeben von orientalischen Huris, in einem Palast aus Gold, der nach Myrrhe und Weihrauch duftet.
    In Bern nimmt die Reise ein jähes Ende. Der französische Botschafter lässt die Polizei rufen und die beiden auf der Stelle festnehmen. Weil Jean-Jacques bestreitet, ein Schweizer zu sein, sich als Franzose ausgibt und behauptet, diesen Scharlatan erst seit ein paar Stunden zu kennen,
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