Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
empfing. Man bedachte sie weder mit finsteren Blicken noch mit gemurmelten Flüchen. Sie fühlten sich sicherer als beim Betreten der Herrenlosen-Stadt am Tag zuvor. Aber der Schein trog.
In der Mitte des Vo’an , wo die blanke Erde im Lauf vieler Jahre festgetreten und so hart wie Stein geworden war, hatte sich eine große Schar von Kyrinin versammelt. Als sie sich der Menge von hinten näherten, stieß Yvane Orisian an und deutete unauffällig auf einen Pfahl, der einige Schritte entfernt aufragte. Er war mit Hörnern, aufgefädelten Raubtierzähnen und Tierschädeln geschmückt. Die Knochen wirkten hell und noch nicht verwittert.
»Das ist schlecht«, wisperte Yvane. »Ein Kriegspfahl. Sie rechnen mit Toten.«
Die Kyrinin machten bei ihrer Ankunft ein wenig Platz, sodass sie sehen konnten, was sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit befand. Verwesungsgeruch hing über dem Platz. Er war so stark, dass Orisian mühsam ein Würgen unterdrückte.
Man hatte einen Holzrahmen von der Art errichtet, wie sie zum Schlachten und Häuten von größeren Tieren verwendet wurden. Ein Kyrinin war an den Rahmen gebunden, nackt und leblos. Sein Kopf hing nach vorn, und das lange weiße Haar fiel ihm wie ein Schleier vor das Gesicht. Von der Schulter bis zur Hüfte hatte man ihm schmale Hautstreifen abgezogen und auf Stöcke gerollt. Die Eingeweide quollen ihm aus der Bauchhöhle. Die Lenden waren eine blutige Masse. Ein grauenhafter Gestank stieg von dem geschundenen Leichnam auf. Bittere Galle sammelte sich in Orisians Mund. Er wandte sich ab und hörte Anyaras entsetztes Stöhnen. Drei Kyrinin-Kinder standen in der Nähe und starrten ihn neugierig an. Eines hatte Pfeile und einen kleinen Bogen in den Händen.
In diesem Augenblick kam Ess’yr um die Menge herum auf sie zu, dicht gefolgt von ihrem Bruder.
»Ihr geht besser«, sagte Ess’yr.
»Wir verlassen die Stadt«, erklärte Orisian. »Mit dem Schiff. Ich wollte Lebewohl sagen.«
»Wir kommen zu euch.«
»Wir brechen noch heute auf.« Eine dunkle Ahnung durchzuckte ihn. Er konnte nicht fortgehen, ohne mit ihr gesprochen zu haben. Es war ein besonderer Abschied, zumindest für ihn. Er sah, dass Varryn ihn mit undurchdringlichen Blicken musterte.
»Wir kommen bald.« Er glaubte ein Versprechen in ihrer Stimme zu hören. »Aber nicht jetzt.«
»Wir gehen besser«, sagte Rothe ruhig. »Ich glaube nicht, dass es gut ist, hierzubleiben.«
Zögernd stimmte Orisian zu. Ess’yr wandte sich bereits ab, und plötzlich stieg die Panik in ihm hoch, dass er ihre zarten Züge nie wiedersehen würde. Er hätte versuchen können, sie zurückzurufen, aber er tat es nicht.
Yvane hatte sich leise mit einer Fuchs-Frau unterhalten und kehrte nun mit besorgter Miene zu ihnen zurück.
»Gehen wir«, sagte sie.
Die vier Gefährten verließen das Lager und kehrten über die Stegbrücke nach Koldihrve zurück. Der Regen durchweichte ihre Kleidung und ließ den Fluss aufschäumen.
»Sie sind wirklich Wilde«, murmelte Anyara.
»Das ist wahr«, pflichtete ihr Rothe bei und fügte dann zu Orisians Erstaunen leise hinzu: »Aber ich habe Schlimmeres gesehen, was Menschen angerichtet haben.«
»Sie erwischten diesen Schleiereulen-Krieger nicht weit von hier«, berichtete Yvane, als sie sich wieder in der Stadt der Herrenlosen befanden. »Wie es scheint, war er nur einer von vielen, die sich dem Lager nähern. Es wird zu einem großen Blutvergießen kommen.«
»Heute?«, erkundigte sich Rothe.
»Wahrscheinlich. Sie behaupten, die Schleiereulen seien zu Hunderten im Anmarsch. Dazu eure Freunde vom Geschlecht Horin-Gyre.«
»Halt, bleibt stehen!«, zischte Orisian und zügelte unvermittelt seinen Schritt.
Die anderen sahen ihn fragend an, und er deutete mit dem Kinn die Straße entlang. Vier oder fünf Männer standen im strömenden Regen, verschwommene Gestalten, die sich unter formlosen Umhängen verbargen, aber alles andere als Freundlichkeit und Wohlwollen ausstrahlten. Yvane wischte sich das Regenwasser von der Stirn und starrte mit zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung.
»Sagtest du nicht, du hättest Tomas gestern nicht den geringsten Anlass zu Ärger gegeben?«, fragte sie.
»Genau«, murmelte Orisian. »Wir schieden im bestmöglichen Einvernehmen.«
Er hielt verzweifelt nach einem Weg Ausschau, der sie nicht an der Gruppe vorbeiführen würde. Sämtliche Instinkte sagten ihm, dass dies nicht die gewöhnlichen Aufpasser waren, die sie seit ihrer Ankunft in Koldihrve auf
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