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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
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einmal den Boden berührte, wollte ihn seine Liebe zu jenen zurückhalten, die noch ganz in dieser Welt zu Hause waren.
    Der klare Äther befreite ihn nun jedoch aus seinem langen Traum, und er stieg hoch in die Luft. Er sah, wie sich der weiße Wolkenwall um die Bucht und die Flussmündungen schloss, und als er in die Wolken hineinflog, wurde ihm bewusst, dass sie noch genauso beschaffen waren, wie er sie seit langer Zeit im Gedächtnis hatte.
    Und so verschwand Athansor, der weiße Hengst, der so oft im Leben geschlagen worden war, ein zweites Mal jenseits des Wolkenwalls – um niemals mehr zurückzukehren.
    In dem Hof, wo Christiana das weiße Pferd gehalten hatte, lag das Tablett im Schatten, doch auf die Wand genau über ihm traf Licht.
    Bei Sonnenaufgang senkte sich die klare Trennungslinie zwischen Sonnenschein und Schatten. Zuerst wurde das Tablett nur entlang eines dünnen Streifens am Rande beleuchtet, der brannte wie ein glühender Draht.
    Dann, als das Licht in einem goldenen Vorhang einfiel, loderte das Tablett gleichsam auf. Fast so stark wie die Sonne erfüllte es die dunkle Seite des Gartens mit einem satten Leuchten, das der edlen Reinheit des Metalls in blendenden Farben entströmte. Als das Feuer der Sonne auf die Inschrift fiel, begann der Hof in goldenem Licht zu erstrahlen.
    *
    Die Barkasse der Sun tuckerte über die kalten Strömungen, die den Hafen jetzt grün, golden und weiß färbten. Der Motor sang in einem tiefen Ton, der die Passagiere verwundert aufhorchen ließ. Im Süden erhob sich vor ihren Augen eine senkrechte weiße Wand, die dem Hafenbecken die Unendlichkeit des offenen Meeres verlieh. Der Wolkenwall begann zu wabern und zu schwanken, er wölbte sich vor und zog sich wieder zusammen, stieg dann aber kerzengerade empor, bis er den Blicken gänzlich entschwand. Hardesty meinte, er sei gewiss mit dem Rauch und dem Staub der zertrümmerten Stadt angefüllt. Dergleichen könne besonders in der Morgensonne wundervoll aussehen.
    Martin war der Einzige, der den Wolkenwall nicht anstarrte, und er grübelte auch nicht darüber nach, was noch kommen würde. Er hatte Abby nicht aus den Augen gelassen, als sei alles eine Frage des Glaubens. Die Vibrationen der Maschinen unter dem Lukendeckel, auf dem sie lag, hatten ihr schon vor einiger Zeit das Haar aus dem Gesicht geschüttelt. Fast hätte man meinen können, sie bewege sich aus eigener Kraft, doch dem war nicht so. Manchmal rollten ihre Arme im Rhythmus des schaukelnden Bootes ein wenig hin und her. Als sich ihr linker Zeigefinger ausstreckte und wieder krümmte, hielt Martin den Atem an. Er glaubte zu sehen, dass sie ganz leicht ihre Lippen schürzte. Dann vermeinte er, sie sogar atmen zu sehen. Als die anderen ihn aufforderten, sich die weiße Wand anzusehen, konnte er sich nicht von Abby losreißen. Denn sie bewegte sich! Es mussten die Vibrationen der Maschine sein, nichts weiter. Doch jetzt streckte sie wieder einen Finger aus. Und jetzt atmete sie wirklich! Und jetzt, in einem kurzen, entscheidenden Augenblick, öffnete sie wie im Schock die Augen.
    Nachdem sich Martin wieder gefasst hatte, sagte er es den anderen: Abby hatte ihn angeblickt und sogar gelächelt! Als Asbury sah, dass das Kind tatsächlich die Augen geöffnet hatte, packte er die Ruderpinne ganz fest, denn jetzt, da er dem so nahe war, wonach er suchte, fiel es ihm schwer, das Schiff auf Kurs zu halten. Mrs Gamely warf den zerknitterten Breiumschlag ins Hafenbecken und begann zu weinen.
    Mit äußerster Selbstbeherrschung ging Virginia auf ihre Tochter zu, als sei jene gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht. Obwohl sie zitterte und vor lauter Tränen nichts sehen konnte, handelte sie weder überschwenglich noch unüberlegt, sondern nahm Abby einfach auf den Schoß.
    Wie es seine Art war, machte sich Hardesty einen Reim auf die Dinge: Er wusste, dass in den Augen Gottes alle Dinge miteinander verbunden sind; er wusste, dass Gerechtigkeit tatsächlich überraschend den Geschehnissen und Errungenschaften längst vergessener Zeiten entspringen kann; und er wusste, dass Liebe nicht an der Zeit zerbricht. Unklar war ihm jedoch, wie sein Vater all dies ohne jeglichen Beweis hatte wissen können und wie er die Kraft zu glauben gefunden hatte. Seine Gedanken schweiften ab. Peter Lake kam ihm in den Sinn – doch da wurde er abgelenkt. Etwas Wunderbares geschah.
    Vor sich sah er in überwältigender, unentwirrbarer Vielfalt die vielen reichen Stunden aller vergangenen Zeitalter
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