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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind
Autoren: L Mer
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Tränen, das Schniefen, das Zittern – alles, was sie verraten konnte. Der Schatten des Prinzessinnenbrunnens lag über ihr. Sie war unsichtbar. Unsichtbar.
    Die Kälte brauchte keine Augen. Sie war vom Boden an ihr hochgekrochen und hielt sie jetzt umklammert. So sehr, dass Johanna nicht sicher war, ob sie sich noch bewegen konnte, wenn sie es versuchen würde.
    Aber sie wollte es ja nicht versuchen. Sie war ganz still, ganz reglos, nur ein alter Stein unter dem Brunnen, nur ein formloser Schneehaufen, grau im fahlen Licht. Unsichtbar, unsichtbar. Sie schloss die Augen so fest sie konnte.
    „Johanna“, flüsterte der Wind. „Johanna“, wisperte der Schnee. „Johanna“, hauchte jede einzelne Flocke in ihr Ohr. „Johanna, komm. Komm heraus.“
    Johanna machte sich noch kleiner.
    „Nein“, murmelte sie mit tauben Lippen. „Nein, ich bin nicht hier.“
    „Aber ich sehe dich“, säuselte der Schnee, der Wind. „Ich sehe dich, dort unter dem Brunnen. Komm heraus. Es ist Zeit.“
    „Nein.“ Johanna kniff die Augen noch fester zusammen. „Ich bin nicht hier, du kannst mich nicht sehen.“
    „Oh doch, mein Herz, mein Liebling. Du bist dumm gewesen und ungehorsam, und du bist fortgerannt. Aber ich habe dich gefunden. Ich werde dich immer finden. Du bist ein Teil von mir.“
    „Nein!“
    Aber die sanfte, eisige Stimme lachte nur. Stoff raschelte, und es wurde dunkler hinter Johannas geschlossenen Augen, als ein neuer Schatten sich über sie senkte.

    Auf dem Hügel herrschte wüstes Durcheinander. Arbeiter liefen in Scharen umher, schippten Schnee in Schubkarren, zerrten Holzkisten aus dem roten Turm auf den Vorplatz. Als Sophie ankam, fiel eine und platzte auf, und Wolken von Holzwolle quollen heraus. Die Männer, mit denen sie gekommen war, verteilten sich rasch, auch Willem und sogar das Spülmädchen verschwanden irgendwo im Gewühl. Jeder schien genau zu wissen, was es zu tun galt. Verunsichert blieb Sophie stehen.
    Der Hüttenmeister war nirgendwo zu sehen. Kämpfte er drinnen mit der beschädigten Schmelzwanne? Das Tor der großen Werkshalle war fest geschlossen, die Arbeiter schoben die Karren durch die kleine Seitentür, die sie beim ersten Mal übersehen hatte.
    „Wegen dem Luftzug“, sagte Marek neben ihr. „Feuer will fressen, um zu überleben. Und am liebsten frisst es Luft. Wir können es ihm wenigstens so schwer machen wie möglich. So lange nur die verdammte Zwischentür hält …“ Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht.
    „Sie glauben es nicht“, sagte Sophie beklommen. „Sie glauben nicht, dass sie halten wird.“
    Er zuckte die Achseln, einmal, ganz knapp.
    Sophie machte eine hilflose Handbewegung, zu den Männern hin, die Kisten aus dem Turm schleppten.
    „Aber ist das alles dann nicht vollkommen sinnlos?“
    In der Halle knallte es wieder dumpf, und ein plötzlicher Luftschwall ließ Sophie taumeln. Mit Mühe hielt sie sich aufrecht. Marek antwortete nicht, musterte sie aber aufmerksam. Na, schien sein Blick zu sagen, hast du also schon genug, bevor es richtig losgeht?
    Sophie drückte das Kreuz durch.
    „Sagen Sie mir“, bat sie mit nur ganz leise zitternder Stimme, „was ich tun soll.“

    „Johanna“, flüsterte die sanfte, kalte Stimme. Sie war jetzt ganz nah. „Johanna, sieh mich an.“
    Etwas wie ein Stein sackte in Johannas Bauch nach unten, schwer und hart, tiefer, immer tiefer. Kein Entkommen. Sie presste sich gegen den Sockel des Brunnens, aber er öffnete sich nicht für sie, um sie wie im Märchen in seinem Inneren zu verbergen. Oben, über dem Bassin, fauchte Wind um die Statue; sie selbst aber blieb stumm und reglos. Kein Entkommen. Keine Hilfe.
    Der Stein in ihrem Bauch wollte sie mit sich in die Tiefe ziehen. Ins Dunkel, wo alles gleichgültig war. Sie fror so sehr, war so entsetzlich müde – und so unendlich allein. Gib auf, Johanna, flüsterte der Stein ihr zu; gib doch auf, du kannst nicht gewinnen. Niemals gegen Sie .
    Johanna wusste, dass er recht hatte.
    Ihr Kopf fing von selbst an, sich langsam zu heben. Der tiefe Schatten vor dem Brunnen wurde klarer, schärfer. Er füllte die ganze Welt aus. Das weiße Gesicht schwebte an seiner Spitze, das schöne, ruhige, schneeweiße Gesicht mit den glänzenden Glasaugen. Sie sahen sie an, unverwandt. Hielten sie, zogen ihren Kopf weiter in die Höhe. Er folgte ihnen widerstandslos. Johannas Lippen öffneten sich von selbst:
    „Nein“, sagte ihr Mund.
    Sie hörte es, sie wusste, dass sie es war,
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