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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill
Autoren: Ueberreuter
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Handbewegung, es rasch zu öffnen.
    Willie Morgan, ein schmächtiger Mann mit einem hageren Gesicht, kurbelte das Fenster herunter. Neben ihm saß Laura, seine Frau, mit ihren dicken Backen und dem ausladenden Hintern das genaue Gegenteil von ihm. »Father Paul«, wunderte sich Willie.
    »Was machen Sie hier?«, fragte der Pater, die üblichen Höflichkeitsfloskeln beiseitelassend. »Waren Sie bei Niskigwun?« Er deutete auf das Gewehr an der Rückwand. »Haben Sie auf ihn geschossen? Wollten Sie ihn für den Selbstmord Ihrer Tochter bestrafen?«
    Willie Morgan wirkte erschöpft und bedrückt. Die Augen seiner Frau waren vom vielen Weinen gerötet. »Vielleicht … wahrscheinlich wollten wir das. Er hat den Tod unserer Tochter auf dem Gewissen. Er hat den Wendigo nach Chicago geschickt und sie gezwungen in den Tod zu springen. Er ist schuld!«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    »Es kam über den ›Mocassin Telegraph‹«, sagte er. Anscheinend funktionierte die Gerüchteküche auch nachts. »Die Standing Clouds glauben, dass der Wendigo auch hinter ihrer Tochter her ist … Niskigwun schickt ihn allen Mädchen auf den Hals, die jemals über seinen Sohn gelacht haben. Candy war sein erstes Opfer. Dafür muss er sterben, sonst haben wir niemals Ruhe.«
    »Aber Sie haben ihn nicht getötet.«
    »Er ist nicht zu Hause.«
    »Aber auch wenn er zu Hause wäre, hätten Sie nicht auf ihn geschossen«, sagte Father Paul ruhig. »Ich kenne Sie, Willie. Sie sind ein guter Mann. Sie könnten nicht auf Menschen schießen.«
    Willie Morgan begann zu weinen, zuerst leise und stockend, dann immer heftiger. Seine Frau legte eine Hand auf seine Schulter. »Es ist gut, Willie.«
    »Fahren Sie nach Hause, Willie!«, riet ihm Father Paul. »Überlassen Sie es Gott, über die Menschen zu richten. Gehen Sie schlafen. Ich komme morgen bei Ihnen vorbei, wenn ich darf, und bringe Ihnen Kaffee und Tabak.«
    Willie Morgan nickte schluchzend, nicht im Mindesten beschämt, seine Trauer zu zeigen. Er nahm das Gewehr von der Rückwand und reichte es dem Pater. »Heben Sie es für uns auf, bis wir Candy begraben haben.«
    Father Paul versprach es und kehrte mit dem Gewehr zu seinem Bronco zurück. Er fuhr rückwärts zur Forststraße, ließ die Morgans vorbei und folgte ihnen zur Hauptstraße. Dort wandte er sich nach Osten. Er glaubte zu wissen, wo sich der Schamane aufhielt.
    Auf dem Parkplatz bei der heiligen Zeder stand Niskigwuns Pick-up. Father Paul hielt an, sprang aus dem Bronco und stieg den steilen Pfad zur Zeder hinab. Bald sah er den Schamanen auf dem Felsvorsprung stehen, die Arme zum Himmel gereckt.
    »Komm mir nicht zu nahe, Schwarzkittel!« Anders als bei ihrer früheren Begegnungen war Niskigwun wie für eine feierliche Zeremonie gekleidet. Er trug seine Leggins und das Kriegshemd aus Wildleder, die Kappe aus Wolfsfell mit den Krähenfedern und die mit Blumenmusternverzierten Mokassins. »Lass mich meinen letzten Weg allein gehen.«
    Father Paul erschrak. Er hatte eigentlich erwartet, einem aggressiven und siegessicheren Schamanen gegenüberzutreten, stattdessen begegnete er einem gebeugten Mann. »Was hast du vor, Niskigwun?«
    »Du weißt, was ich vorhabe«, erwiderte Niskigwun. »Ich werde über die Milchstraße auf die andere Seite gehen, und auch du wirst mich nicht daran hindern. Kitche Manitu will, dass ich gehe. Meine Kräfte sind erlahmt, mein Zauber hat versagt. Selbst der Wendigo, einst mein stärkster Verbündeter, wenn es gegen meine Feinde ging, ist zu schwach, um es mit den verräterischen Weibern aufzunehmen. Candy musste sich seinem Willen beugen, sie starb den Tod, den sie verdient hatte. Doch was ist mit den anderen? Warum haben Wendy und Florence seinen Angriff überlebt? Warum lebt Sarah noch? Nein, weißer Mann, nur wenn ich ein Opfer bringe, das größte Opfer, zu dem ich fähig bin, kann ich den Wendigo dazu bringen, noch einmal anzugreifen.«
    »Warum, mein Freund? Warum?«
    »Ich bin nicht dein Freund, und ich werde es niemals sein, auch nicht im Angesicht meines nahen Todes. Warum, fragst du? Weil Wendy niemals aus ihrem Koma erwachen darf. Weil Florence den gleichen Weg noch einmal gehen muss. Weil Sarah nicht länger über den Wendigo triumphieren darf. Sie haben Bobby ausgelacht. Als er mit ihnen tanzen wollte, hatten sie etwas Besseres zu tun. Sie haben aus dem Krieger, der er sein wollte, einen Schwächling gemacht. Sie wollten, dass er die Jagdgründe seines Volkes verlässt, um im Land der weißen
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