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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill
Autoren: Ueberreuter
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Augenblick und blickte auf den Lake Superior hinab, beobachtete einen Adler, der einsam seine Kreise zog, und lauschte dem leisen Plätschern des Wassers. Der Mond spiegelte sich in den unruhigen Wellen.
    »Kitche Manitu! Du bist der Schöpfer aller Dinge und weißt, dass mich nur die Sorge um mein Volk zum Ufer dieses Großen Sees treibt. Wir müssen die bösen Kreaturen vernichten, die sich gegen unsere heiligen Gesetzestellen. Wendigo, die Ausgeburt des Bösen, wird sie heimsuchen und in sein eisiges Reich holen. Eine Hölle, in der es kein Feuer gibt, und doch sind die Qualen, die sie dort erleiden müssen, schlimmer als alles, was uns die Pfaffen über die Hölle der Christen erzählen. Töte, Wendigo! Töte die bösen Weiber, die meinen einzigen Sohn ermordet haben! Hörst du mich, Kitche Manitu? Du bist der Herr über Leben und Tod, und nur du besitzt die Macht, Wendigo in die große Stadt zu schicken. Erhöre meine Bitte, Kitche Manitu! Gib meinem Herzen endlich Frieden!«
    Niskigwun streute erneut Tabak auf den Boden, verneigte sich vor dem heiligen Baum und kehrte über den gewundenen Pfad zu seinem Pick-up zurück. Bleiches Mondlicht lag über der versteckten Lichtung, auf der er geparkt hatte. Er wechselte in seine Alltagskleidung, die Jeans, das karierte Hemd, den Anorak und die Stiefel, und fuhr zum Casino zurück, wo er einen Job als Aushilfe in der Küche gefunden hatte.
    Sarah saß auf der Bank am Fenster, den Pappbecher mit dem Caffè Latte Vanille in beiden Händen, und blickte nachdenklich nach draußen. In dem hellen Licht, das aus dem Starbucks auf den Gehsteig fiel, glitzerten die Schneeflocken wie silbernes Konfetti.
    Die Begegnung mit Ethan kam ihr inzwischen wie ein Traum vor. Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn noch immer neben sich stehen, spürte die sanfte Berührung seiner Hände, versank im tiefen Blau seiner Augen, hörte seine leise Stimme. Als wäre er nur auf die Welt gekommen, um sie zu retten.
    Einen solchen Jungen konnte es nur in einem Traum geben. Die Wirklichkeit war nüchterner, hielt für die meisten Menschen kein grenzenloses Glück bereit und die ewigeLiebe schon gar nicht. Im Kino vielleicht, in kitschigen Filmen wie der Komödie, die sie sich mit Carol ansehen würde, aber nicht an einem schlichten Wintertag in Chicago.
    Hatte Ethan ihr wirklich das Leben gerettet? Sie hätte es nicht beschwören können. Die heisere Stimme des Wendigo klang in der Erinnerung genauso unwirklich wie die Ethans. Vielleicht war sie auf die Straße gestolpert und ein hilfreicher Passant hatte sie auf den Gehsteig zurückgezogen. Keine große Sache, eher ein Reflex, dem niemand eine große Bedeutung beimaß. Sicher hätte der Lieferwagen noch rechtzeitig bremsen können. Sie hatte sich Ethan nur eingebildet, die Fantasie war mit ihr durchgegangen. Der Englischlehrer am College hatte sogar einen Fachausdruck für ein solches Verhalten gehabt, ein Wort, das ihr längst entfallen war. Es gab Menschen, so hatte er berichtet, vor allem Künstler, die sich mehrere Leben vorstellten, in Gedanken oder im Traum mehrere Wege gingen und auf diese Weise erfuhren, wie ihr Leben gewesen wäre, wenn das Schicksal sie in eine andere Richtung geschickt hätte. Sie war keine Künstlerin, aber in ihren Adern floss indianisches Blut. Die Anishinabe behaupteten, dass Träume eine zweite Wirklichkeit wiedergaben.
    Sie trank von ihrem Kaffee und blickte auf die Uhr über dem Tresen. Kurz nach sieben. Gleich würde Carol auftauchen und eine belanglose Bemerkung über das Wetter machen, vielleicht noch über einen der Studenten schimpfen, die sie anzumachen versuchten, ansonsten aber nur über allgemeine Dinge sprechen. Neue Filme, neue Songs, die letzte Folge der »Vampire Diaries«. Carol erzählte fast nie etwas Persönliches. Bis gestern hatte sie stets missmutig abgewunken, wenn Sarah nach ihren Eltern oder Geschwistern gefragt hatte. Sarah wusste gerade mal, dass sie aus Indianapolis kam und später Lehrerin werden wollte.
    Zwölf nach sieben und ihr Becher war auch schon leer. Wo steckte Carol bloß? Sarah kramte ihr Handy hervor und rief sie an. Es klingelte ein paarmal, dann erklang Carols Stimme: »Hi, ich bin gerade mal weg. Wenn du mir was sagen willst, sprich auf die Box.«
    »He, Carol! Wo bleibst du denn?«, sagte Sarah. »Ich warte im Starbucks.«
    Sie steckte das Handy weg. Wahrscheinlich war ihre Mitbewohnerin noch in der Hochbahn. In der Innenstadt fuhren die Züge der Red Line unterirdisch.
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