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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer
Autoren: Robert Redick
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Chadfallows Neuigkeiten wirbelten ihm im Kopf herum. Mutter und Schwester am Leben! Aber wo mochten sie sein? Versteckten sie sich in den Ruinen von Ormael? Waren sie in die Sklaverei verkauft worden? Oder waren sie in die Herrenlosen Lande geflüchtet und hatten sich so dem Zugriff des Reiches entzogen?
    Mit einem Mal wurde es Pazel sterbensübel. Schwindel erfasste ihn, sein Blick trübte sich. Der bittere Tee kam ihm hoch. Er stolperte und stieß die Kabeltrosse wieder um.
    Ignus, was hast du mit mir gemacht?
    Doch es war schon wieder vorbei. Es ging ihm gut – aber hinter ihm kicherte jemand. Pazel drehte sich um und sah, wie Jervik triumphierend auf ihn deutete. »Ich habe ihn gefunden, Sir! Hat sich vor der Arbeit gedrückt! Und die Taurolle hat er mit Absicht umgestoßen, um seine Freischicht zu verlängern! Sagen Sie ihm, was er zu tun hat, Mr. Nicklen, Sir.«
    Nicklen, der Bootsmann, schlurfte mit hängenden Schultern und finsterer Miene hinter Jervik her. Er war ein kräftiger Mann mit rotem Gesicht, und seine Augen lagen so tief in den Höhlen, als wären sie mit den Fingern in den weichen Teig seiner Tränensäcke eingedrückt worden. Gewöhnlich nahm er sich ein Beispiel an Nestef und behandelte Pazel durchaus anständig – aber das Tau lag wie eine einzige Anklage auf dem Deck, und als Nicklen fragte, ob Jervik die Wahrheit gesagt hätte, biss Pazel die Zähne zusammen und nickte. Hinter dem Offizier grinste Jervik wie ein Frosch.
    »Schön«, sagte der Bootsmann. »Du kannst gehen, Jervik. Und was Sie angeht, Mr. Pathkendle, so sind Sie ein Glückspilz. Sie müssten wegen Ihrer Pflichtvergessenheit ausgepeitscht werden. Stattdessen brauchen Sie nur mit mir zu kommen.«
     
    *     *     *
     
    Vierzig Minuten später fühlte sich Pazel nicht mehr wie ein Glückspilz. Es hatte zu regnen begonnen, und er stand ohne Mütze (die lag in seiner Kiste auf der Eniel ) in Sorrophran auf einer halb überfluteten Straße und lauschte den gedämpften Klängen einer Flöte und eines Akkordeons, die, immer wieder von brüllendem Gelächter unterbrochen, durch die Steinmauern der Kneipe neben ihm drangen. Nicklen hatte sich nämlich eine besonders sinnlose Strafe für ihn ausgedacht: Er musste hier stehen wie ein gescholtener Schuljunge, während der Bootsmann seine Heuer vertrank.
    Pazel verwünschte Jervik, und das nicht zum ersten Mal. Noch befand er sich im Hafenviertel und war daher vor umherstreunenden Flikkern sicher. Aber wie Pazel den älteren Teerjungen kannte, würde der dem Ersten Maat von dem Zwischenfall an Deck erzählen, und Pazel würde doch noch seine Tracht Prügel bekommen.
    Pazel hatte diesen Verdacht gegenüber Nicklen geäußert, als sie durch die Stadt marschierten. Die Antwort des Bootsmanns war seltsam: Pazel solle am besten vergessen, dass er jemals einen Dummkopf namens Jervik gekannt hätte.
    »Mr. Nicklen«, hatte Pazel weitergefragt (der Bootsmann schien sein Geplapper an diesem Abend dulden zu wollen). »Ist die Chathrand schnell?«
    »Schnell!«, rief Nicklen. »Bei starkem Wind fegt sie greimig dahin! Schwierig wird es, wenn der Wind nicht so stark ist. Kleine Schiffe können aus 'ner leichten Brise mehr rausholen, verstehst du? Deshalb hängt der Erhabene so sehr an seinen kleinen Kanonenbooten. Die großen liebt er natürlich auch. Und die mittelgroßen. Aber die Chathrand träumt von Winden, die jedes durchschnittliche Boot versenken würden. Ich könnt’ mir denken, dass ihr die Nelu Peren die Flügel stutzt.«
    Die Nelu Peren, die Stille See, war das einzige Meer, auf dem Pazel jemals gefahren war. Sie war keineswegs immer ruhig, aber doch viel zahmer als die Nelu Rekere (die Enge See), die sie umschloss. Am weitesten entfernt, noch hinter den Inselgruppen im Süden, lag die Nelluroq, die Herrschersee. Die Legenden berichteten von großen Inseln oder gar ganzen Kontinenten, die sich in ihren Weiten verbergen sollten, bevölkert von seltsamen Tieren und von Menschen, die einstmals mit dem Norden Geschäfte gemacht und über Krieg und Frieden verhandelt hätten. Doch im Lauf der Jahrhunderte war ein großes Schiff nach dem anderen gesunken, bis nur die Chathrand noch übrig war, und die sagenhaften Lande waren im Meer des Vergessens untergegangen.
    »Immerhin«, sagte Nicklen, »braucht sie heutzutage nicht mehr zu fliegen wie eine Murte. Sie ist kein Kriegsschiff mehr.«
    Bei dem Wort ›Krieg‹ hatte Pazel in Gedanken einen weiteren Sprung gemacht.
    »Waren Sie im
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