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Wind & Der zweite Versuch

Wind & Der zweite Versuch

Titel: Wind & Der zweite Versuch
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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immer enger machte, wodurch sie viel zu schnell auf den Mond zustürzten, und zweitens den Treibstoff verbrauchte, der ihnen fehlen würde, wenn sie mit Handsteuerung nach einem geeigneten Landeplatz suchen würden. Den vorherbestimmten Platz im Meer der Stille verfehlten sie mit jeder weiteren Sekunde, die das Triebwerk brannte, um weitere x Kilometer. Das Triebwerk ließ sich nicht abschalten, Ann konnte es durch ihre Füße summen fühlen, etwa so, wie man im Wohnzimmer einen Kühlschrank in der Küche summen fühlt. Einen sehr großen Kühlschrank. Ann sagte: »Computer?«, und als Antwort auf ihre Anfrage erschien ein derartig chaotischer Haufen ungefilterter Informationen in rasender Abfolge auf der Sichtscheibe ihres Helms, daß sie nicht einen einzigen Wert korrekt ablesen konnte. Der Tanz der Daten dauerte etwa zwei Sekunden, dann folgte eine Art Spiralmuster, das langsam um seine Mitte kreiste, und danach sah sie nur noch die blanke Wand mit den Haltegriffen. Hier gab es keine gefälschten elektronischen Instrumente und Vorrichtungen, die Fernsehübertragung hätte erst wieder nach ihrem Ausstieg beginnen sollen. Ron mühte sich immer noch mit der Handsteuerung ab, aber scheinbar richtete er jetzt gar nichts mehr aus. Ann war sehr seltsam zumute. Sie hatte fast gar keine Angst vor dem Sterben. Noch immer drängte Ann 3 an die Wasseroberfläche, kam von sehr tief unten und drängte hoch an die Oberfläche, wie ein Blase voll mit fauligern Gas, die sich am Meeresboden aufgrund der Zersetzung toter Organismen gebildet hat.
    »Laß es, Ron«, sagte Ann 3, »wir werden sterben.«
    Und mit einem Mal platzte die Blase und verbreitete ihren Inhalt über der Wasseroberfläche. Ann 1 war aus ihr verschwunden, Ann 2 hatte resigniert, und Ann 3 baute rasend schnell ihre Kontrolle aus, wie ein Eroberer, der in eine Stadt eingefallen ist und die Stadtmauer verstärkt, um nicht wieder hinausgeworfen zu werden. Ann erkannte die Lage klar genug. Das Kind mit den gefärbten roten Haaren war eine Illusion gewesen. Sie hatte niemals eine Mutter gehabt. Programmierte Erinnerungen waren eine Spezialität der Ecclesia, und sie hatte gerade die Macht dieser Technologie an ihrem eigenen Leibe erfahren: sie gehörte zur CSS. Ann 3 war real. Nun hatte sie die Kontrolle übernommen, aber es gab nichts mehr zu tun, die Aufgabe, die die Ecclesia ihr übertragen hatte, würde sie nicht erfüllen können, weil die Technik versagt hatte. Die CSS glaubte nicht an Wunder, auch wenn Jesus einst über das Wasser gewandelt war, die CSS glaubte an Technik, und wenn die Technik versagte, bereiteten sich Mitglieder der CSS auf den Tod vor. So auch Ann. Sie sah in Rons rotverschwitztes Gesicht, und sie konnte ihn selbst unter dem dicken Anzug heftig atmen sehen.
    »Hör auf, Ron«, sagte sie noch einmal. Sogar ihre Stimme klang jetzt anders. »Wir werden sterben.«
    »Halt’s Maul«, schrie er mit verzerrtem Gesicht, es sah fast so aus, als wolle er sich auf sie stürzen, »halt’s Maul, oder ich …« Er brach abrupt ab, denn die Vibrationen unter ihren Füßen hörten plötzlich auf, und der Andruck, den das Triebwerk beim Abbremsen des freien Falls erzeugt hatte, hörte auch auf, so daß sie praktisch in Schwerelosigkeit übergingen. Das Bremstriebwerk hatte aufgehört zu brennen. Sie fielen wie ein Stein auf den Mond zu, den ein dummer Junge von der Erde hergeworfen hat. »Computer?« schrie Ron in seinem dunstbeschlagenen Helm. Nichts. Ann sah aus dem Fenster: silbrig beschienene Krater, klar geschnittene Schatten. Wie oft hatte sie das im Simulator gesehen. Draußen war die Welt völlig still, auch wenn sie beide hier drinnen atmeten. Stille Welt, über die sie mit annähernd 8000 Kilometer in der Stunde hinwegrasten. Der Auftrag der Gemeinde wäre gewesen, dort hinauszugehen, Staub einzusammeln und zu beten. Sie hatte keine Angst vor dem Sterben. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder, sie würden sehr bald auf der Mondoberfläche aufschlagen. Oder aber das Bremstriebwerk hatte früh genug aufgehört zu brennen, dann würden sie noch einmal in eine Umlaufbahn hinausgetragen werden und nach noch einer Runde aufschlagen. In diesem Fall bestand eine Möglichkeit, daß sie Michael noch einmal begegneten, aber ohne Kontrolle über ihre Lage war das so nutzlos, daß sie es sich erst gar nicht wünschte. Sie dachte sehr rational. Sie sah Ron an. Vorhin hatte er sie umbringen wollen, und jetzt sah er aus wie ein kleiner Junge, der sich in die Hosen
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