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Willkür

Willkür

Titel: Willkür
Autoren: Gary Disher
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war nun verschoben. Er war vierzig und die Hälfte seines Lebens hatte er damit zugebracht, Geld aufzuspüren und ein entsprechendes Unternehmen zu organisieren, um es zu holen. Er hatte klein angefangen, sich zunehmend vervollkommnet, um mit ungefähr dreißig dann ehrgeizigere Vorhaben anzupacken — Banken, Lohngelder, Goldvorräte.
    Während der letzten zehn Jahre hatte er nie mehr als drei oder vier Projekte im Jahr in Angriff genommen, dazwischen immer Phasen der Regeneration. Von nennenswerten Bindungen konnte in seinem Fall keine Rede sein, und wenn er nicht arbeitete, fühlte er sich entspannt und neigte dazu, die angenehmen Seiten seiner Mitmenschen aufzuspüren, nicht die Schwächen und Abgründe ihrer Charaktere. Doch das war Vergangenheit. Er war pleite und nirgendwo mehr sicher.
    Nicht zum ersten Mal musste er wieder bei null anfangen, doch aus irgendwelchen Gründen stellte er seit neuestem langfristige Überlegungen an. Wollte er für den Rest seines Lebens so weitermachen? Würde seine Courage ihm treu bleiben? Wenn er aufhörte zu arbeiten (ein Ende durch Festnahme, Verletzung oder Tod fand keine Berücksichtigung in seinen Erwägungen), besäße er dann ein hinreichend dickes finanzielles Polster für ein angenehmes Leben? Er schüttelte den Kopf. Ich unterscheide mich nicht im Geringsten von anderen Männern meines Alters, dachte er, mache mir Gedanken über die Jahre bis zum Ruhestand, bis zum Tod.

    ***

    Am nächsten Morgen schlüpfte er in eine dunkle Hose und zog ein Hemd an. Er entschied sich für eine Windbreaker-Jacke und gegen einen Mantel — damit blieb man nur hängen, an Türklinken, Zäunen oder Ästen. Bevor er die .38er in der Innentasche verstaute, kämmte er sich das nasse Haar zurück. Das hatte den Effekt, sein Gesicht noch hagerer wirken zu lassen.
    Gegen neun Uhr verließ er das Hotel. Ständig auf der Hut vor möglichen Verfolgern, überquerte er die Whitehorse Road und steuerte das Universitätsgelände an. Die Studenten machten alle einen satten Eindruck und kamen ihm unglaublich jung vor. Statt miteinander zu reden, brüllten sie, und sollten sie dieses Gelände eines Tages verlassen, dann vermutlich in der Überzeugung, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, ungeachtet der Tatsache, dass sie von nichts eine Ahnung hatten. Wyatt erreichte das Areal, das an die Swanston Street grenzte, und ging weiter bis zu einer Haltestelle in der Nähe von ›Jimmy Watson’s wine bar‹ an der Lygon Street. Noch einmal vergewisserte er sich, dass ihm niemand folgte. Er sah die Straße hinunter, warf einen Blick auf seine Uhr, runzelte die Stirn und studierte den Fahrplan. Fröstelnd zog er die Schultern hoch, machte den Reißverschluss seiner Jacke zu und betrachtete missmutig die tief hängenden Wolken, die vom Meer her über die Stadt zogen. Ein ganz normaler Mann an einer belebten Straße, der sich nur für das Wetter und die Ankunftszeit seines Busses interessierte.
    Kurz darauf kam der Bus Richtung Kew und Wyatt stieg ein. Als der Bus die Hoddle Street überquert hatte, drückte Wyatt den Signalknopf, um an einer Haltestelle unter den Hochbahngleisen in Abbotsford auszusteigen. Vier weitere Fahrgäste hatten dasselbe vor. Er ließ ihnen den Vortritt. Ein Automatismus.
    Sein Ziel war das Geflecht der engen Seitenstraßen mit seinen kleinen Schuhmanufakturen und dicht an dicht stehenden Weatherboard-Häusern, vor denen griechische Frauen die Betonböden mit Wasser abspritzten.
    Das ›Wheatsheaf‹ war seit seinem letzten Besuch gründlich renoviert worden. Hellblaue Markisen über Türen und Fenstern, ein Schild, das ›Bistro‹ verkündete und Blumenkästen mit Geranien. Wyatt betrat das Lokal. Drinnen saßen zwei Gäste. Beide trugen Mützen nach Art der bretonischen Fischer, mit Nieten besetzte Gürtel, Bikerboots und Lederjacken. Der Typ hinter der Bar war nur mit einer Lederhose bekleidet, doch er hatte sich zusätzlich für knallrote Hosenträger entschieden, die seine Bizeps und die Solariumbräune betonten. Sein kahl rasierter Schädel und sein Ohrring schimmerten im Licht um die Wette. Wyatt ignorierte die aufgeladene Atmosphäre ebenso wie die verspielte Wandbemalung und den neuen Teppichboden. Er bestellte ein Bier, nahm es mit zu einem Tisch am Fenster, von dem aus er Rossiters Haus gut überblicken konnte, setzte sich und wartete.
    Früher war Rossiter ein kleiner Ganove gewesen, spezialisiert auf Überfälle. Aus dieser Sparte hatte er sich jedoch
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