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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville
Autoren: T. C. Boyle
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war John Harvey Kellogg. Indem er diätetischer Zurückhaltung und dem einfachen Leben das Wort redete, führte er übergewichtige Hausfrauen und dyspeptische Geschäftsmänner auf den Pfad der Aufklärung und Genesung. Ernste Fälle – an Krebs Erkrankte, dem Tode Geweihte, geistig und körperlich Behinderte – wurden abgewiesen. Die Patienten des San tendierten dazu, einer bestimmten Klasse anzugehören, und sie hatten keinerlei Interesse daran, beim Essen Hinz und Kunz gegenüberzusitzen oder solchen Leuten, die so wenig Anstand besaßen, daß sie ernsthaft und lebensbedrohend erkrankten. Nein, sie kamen ins San, um zu sehen und gesehen zu werden, um sich unter die Berühmten und Reichen und die Superreichen zu mischen, um positiv zu denken, um vernünftig zu essen und um ihre Leiden mit einem achtbaren, gehörigen, rechtschaffenen Quantum Verhätschelung, Enthaltsamkeit und Ruhe zu kurieren.
    Zu diesem Zeitpunkt, im Herbst 1907, gehörten zu den Gästen im San Berühmtheiten wie Admiral Nieblock von der Amerikanischen Marineakademie, Upton und Meta Sinclair, Horace B. Fletcher und Tiepolo Cappucini, der große italienische Tenor, sowie ein paar bundes- und nationalstaatliche Gesetzgeber, Industriekapitäne, Unterhaltungskünstler und ein Sortiment Herzöge, Gräfinnen und Baronets. Am Horizont zeichneten sich Besuche von Henry Ford, Harvey Firestone, Thomas Edison, Admiral Richard M. Byrd und des dickleibigen William Howard Taft ab. Dr. Kellogg war kein Dummkopf, und er zog soviel Nutzen wie nur möglich aus der Anwesenheit dieser Würdenträger, sowohl, was förderliche Reklame anbetraf, als auch schlichte Gaben von Bargeld. Er wußte, daß eine Kost, bestehend aus Protose-Filets, dem Kraut roter Bete und Brühe mit Nußgeschmack, kombiniert mit dem Verbot künstlicher Stimulanzien und mit langen, ununterbrochenen meditativen Zeitspannen, sich als, nun ja, langweilig für die an ein Leben im großen Stil Gewöhnten und für die Männer und Frauen der Tat unter seinen Patienten erweisen konnte. Und deshalb sorgte er für Beschäftigung mit einem Programm, das aus sportlichen Übungen, viel Bewegung, Ruhe und Anwendungen bestand, und er sorgte auch für Unterhaltung. Es wurden Konzerte organisiert, Vorträge, Schlittenfahrten, ausgedehnte Wanderungen und Gesangsveranstaltungen. An einem Abend mochten die Jubilee Singers auftreten, und am nächsten hielt George W Leitch, der zwanzig Jahre in Indien gelebt hatte, einen Lichtbildervortrag. Oder »Professor« Sammy Siegel, ein zugkräftiger Varietékünstler, der die Saiten seiner Mandoline melkte, gab eine Vorstellung, oder die Tozer Twins mit ihren abgerichteten Dackeln produzierten sich. An Montagabenden jedoch ergriff ausnahmslos der Boss persönlich vom Podium Besitz, und zweieinhalb Schnellfeuerstunden lang klärte er seine Schützlinge auf, erbaute sie und versetzte sie, sosehr er nur konnte, in Angst und Schrecken.
     
    Während der Viertelstunde, die Frank Linniman brauchte, um zur Post Tavern und wieder zurück zu trotten, beantwortete der Doktor zwei weitere Fragen. Die erste kam von einem Herrn weit hinten (Mr. Abernathy, nicht wahr? Gicht, Auszehrung und Nerven?), der über die Gefahren informiert werden wollte, die modebewußte Frauen eingingen, wenn sie sich, zur Erlangung einer »Wespentaille«, die Körpermitte unnatürlich fest einschnürten. Der Doktor wiederholte die Frage für diejenigen weiter vorn, die sie möglicherweise nicht gehört hatten, und dann, nachdem er einen Augenblick lang über seinen seidigen weißen Bart gestrichen hatte, streckte er einen mahnenden Zeigefinger in die Höhe. »Mein lieber Herr Abernathy, ich muß ohne Übertreibung feststellen: Wenn die Zahl der jährlichen Todesfälle, die auf die eitle Praxis des Einschnürens zurückzuführen sind, ordnungsgemäß registriert würde, dann wären Sie wahrhaft entsetzt. Als Assistenzarzt im Bellevue hatte ich Gelegenheit, der Autopsie solch einer unglücklichen Frau beizuwohnen – einer Frau, möchte ich hinzufügen, die noch keine dreißig war. Wie auch immer, zu unserem großen Erstaunen stellten wir fest, daß ihre inneren Organe vollkommen verrutscht waren, die Leber war hinauf in die Lunge gedrückt worden und der Darm so wirksam blockiert, als hätte man ihn mit einem Korken verschlossen.« Er schüttelte müde den edlen Kopf und stieß einen Seufzer aus, der bis in die letzte Reihe zu hören war. »Ein Jammer«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich muß Ihnen gestehen,
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